2.  Von der Umwelterziehung zur ‚Umwelt-Bildung‘

aus: Becker: Urbane Umweltbildung... Opladen 2001 ( Gesamtbuch beim Autor zu erwerben)


2.  Von der Umwelterziehung zur ‚Umwelt-Bildung‘

2.1  Klafki: Epochaltypische Schlüsselprobleme

2.2  Der Beginn der Umweltbildung

2.2.1  Der Lernbericht des Club of Rome

2.2.2  Frühe Umwelterziehung

2.2.3 Sozialistische Umwelterziehung in der DDR

2.3  Vorstufen Ökologischer Bildung

2.3.1  Ökologisches Lernen

2.3.2  Ökopädagogik und Kritik

2.3.3  ‚Ökologische Bildung‘ – weitere Ansätze

2.3.4  Ein grün-alternatives Bildungskonzept

2.3.5  Die ‚Erfindung‘ der Umweltbildung

2.4  Ökologisch orientierte Bildung

2.5  Ökologische Bildungstheorien

2.5.1  Anthropologie und normative Pädagogik

2.5.2  Systemökologische Pädagogik

2.5.3  Kritik des neuen Universalismus der Bildung

2.6  Zur Renaissance der allgemeinen Bildungstheorie

2.6.1  Bildungspolitische Reformansätze

2.6.2  Kritische Bildungstheorie - Allgemeine Bildung

2.6.3  Postmodernismus

2.6.4  Pluralismus

2.6.5  Schlußfolgerung für die Umweltbildung

2.7  Umweltbildung in den 90er Jahren

2.7.1  Umweltkommunikation

2.7.2  Kulturelle Orientierung

2.7.3  Ökonomie, Kritik der Ökonomie und politische Bildung

2.7.4  Naturerlebnis - Ganzheitliche Bildung

2.7.5  Ökoethische Entwicklung

2.8  Lokale Umweltbildung

2.8.1  Modellversuche in der Stadt

2.8.2  Exkurs: Die Stadt in der Geschichte der Pädagogik

2.8.3  Regionales Lernen

2.9  Umrisse eines ‚integrierten Konzeptes‘

 

Die über fünfundzwanzig Jahre alte Geschichte der Umweltbildung, die zahlreiche, z. T. sehr unterschiedliche umweltpädagogischen Konzepte hervorgebracht hat, soll in diesem Kapitel primär als Ausdruck von Kreativität und Vielfalt betrachtet werden. Diese pluralistische Grundhaltung[1] schließt Kritik nicht aus, es geht aber nicht um eine unfruchtbare Abgrenzung eines zu präsentierenden eigenen Konzeptes von bisherigen Ansätzen, die als defizitär oder falsch abgelehnt werden.[2] Ziel ist vielmehr ein tragfähiges integriertes Rahmenkonzept, das eine mehrdimensionale, plurale Binnenstruktur besitzt und unterschiedliche, begründbare Varianten zuläßt, ja fördert.[3] Damit bieten sich – unter zu klärenden Bedingungen – größere Chancen, auf verschiedenen Wegen unterschiedliche Adressatengruppen wirksam anzusprechen und damit einen wirklichen Beitrag zur Bewältigung der Ökologischen Krise zu leisten.

Die Grundlagen für ein solches Rahmenkonzept, das im Verhältnis zu vorliegenden Einzelkonzepten auf einer Metaebene angesiedelt sein wird, sollen hier durch eine problem-, theorie- und praxisgeschichtliche Rekonstruktion[4] der Umweltbildung gewonnen werden. Aus dem gegenwärtigen Stand der Diskussion (Umweltbildung im Kontext der nachhaltigen Entwicklung bzw. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung) ergeben sich einerseits Rückfragen an frühere Entwicklungen und Positionen, neue Sichtweisen und Interpretationen. Dadurch kann eine erweiterte, reflektierte Rekonstruktion der eigenen Geschichte erfolgen. Andererseits kann aus der Problem- und Konzeptgeschichte der Umweltbildung ihre gegenwärtige Problemlage besser verstanden werden. Eine Aufarbeitung der Geschichte führt zu Erinnerungen und bietet auch Gesichtspunkte, die bei einer ständig und schnell voranschreitenden Konzeptdebatte leicht in Vergessenheit geraten. Diese Gefahr der Geschichtslosigkeit besteht meiner Ansicht nach beim derzeitigen Übergang zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. Dies ist aus meiner Sicht einer der Gründe, den Begriff Umweltbildung weiter zu verwenden (s. auch 5.1.3).

Da diese Rekonstruktion gleichzeitig mit der Intention der Verbreiterung der geistigen und gesellschaftlichen Basis der Umweltbildung verknüpft wird, muß der übliche Horizont des Umweltbildungsdiskurses überschritten werden, um auch ‚externe‘ Maßstäbe und Impulse sowie Anschlußfähigkeiten im Sinne von 1.2 an gesellschaftliche Tendenzen und Diskurse zu finden. Die erste und wichtigste Erweiterung des Horizontes einer wechselseitigen Rekonstruktion erfolgt in Richtung allgemeiner Bildungstheorie (vor allem in 2.6), die sich seit Mitte der 80er Jahre selbst in einer Phase der Rekonstruktion befindet. Eine solche bildungstheoretische Rekonstruktion kann jedoch im Sinne einer Anschlußfähigkeit nur gelingen, wenn auch die historischen Konzepte der Umweltbildung unter bildungstheoretischen Aspekten untersucht werden.

Der Bildungsdiskurs greift seinerseits einige externe, also außerhalb der Erziehungswissenschaften geführte Diskurse auf, denen sich die Umweltbildung erst ansatzweise gewidmet hat oder in jüngster Zeit zuzuwenden beginnt (Pluralismus, Konstruktivismus, Postmodernismus, Systemtheorie u. a.). Durch eine Verknüpfung von Bildungstheorie und Umweltbildung wird meiner Auffassung nach ein wichtiger Beitrag zur modernisierenden Rekonstruktion der allgemeinen Bildungstheorie geleistet: Über die Umweltbildung wird die fundamentale Bedeutung des bislang weitgehend ignorierten Mensch-Natur-Verhältnisses oder gar der Nachhaltigkeitsproblematik für die Bildungstheorie deutlich. Insbesondere gilt dies für die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen sowie naturphilosophischen Diskurse (vgl. dazu auch Kapitel 4), für die Partizipation (Kapitel 3) und Urbanität sowie die Lokalität/Regionalität (2.8 und 3.4). Sie haben im Umweltbildungs- und Nachhaltigkeitsdiskurs bereits größere Bedeutung erlangt und zählen deshalb zu den „basalen Theoremen“ der gesellschaftlichen Zukunftsentwicklung im Sinne von de Haan (vgl. These 1.11 in 1.2).[5] Die diagnostizierten ‚naturtheoretischen‘ Defizite der Bildungstheorie[6] gelten auch für die wichtigsten Traditionen des Bildungsdenkens auf Basis der Kritischen Theorie, die sich weitgehend auf gewünschte Gesellschaftsveränderungen, auf grundlegende Merkmale einer neuen Gesellschaft oder auf noch nicht eingelöste alte Versprechen der Moderne bzw. Aufklärung beschränken. Soweit die nachhaltige Entwicklung in ihren Konsequenzen einen grundlegenden Bruch mit der bisherigen Entwicklung impliziert, der eine menschliche Zukunftsentwicklung erst möglich macht, muß dies auch entsprechende Konsequenzen für die Bildung haben. Bildung für nachhaltige Entwicklung (s. 1.1) muß ein Kernbereich, wenn nicht sogar der zentrale Bereich eines neu verorteten allgemeinen Bildungsverständnisses werden. Nur so kann Bildung(stheorie) im Sinne einer eigenständigen Bestimmung ihrer subjektkonstituierenden Funktion zur Zukunftsfähigkeit und -entwicklung beitragen. Der historische Bruch ist jedoch nur durch ein Anknüpfen an bisherige Bildungsverständnisse und ihre Weiterentwicklung oder Transzendierung zu erreichen.

Für eine Rekonstruktionsarbeit, die die verschiedenen genannten komplexen Bezüge und Wechselwirkungen berücksichtigt und die in Kapitel 5 mit dem Diskurs um eine (Umwelt)Bildung im Kontext der nachhaltigen Entwicklung sowie den Erkenntnissen der Kapitel 3 und 4 fortgesetzt wird, gibt es kein einfaches oder eindeutig begründbares Modell. Auch eine Dialektik zwischen systematischer und problemgeschichtlicher Aneignung im Sinne von Hansmann und Marotzki, kommt hier nicht in Betracht.[7]

Ich habe mich für folgende Schritte der Rekonstruktion entschieden, die zunächst im Überblick entlang der Gliederung in acht Abschnitten diesesKapitels[8] dargestellt werden:

In 2.1 werden einige Aspekte der Bildungstheorie Klafkis in der 1985 erstmals vorgelegten und 1991 überarbeiteten Fassung kurz vorgestellt. Daraus werden vorläufige Leitlinien abgeleitet, um in den historisch vorfindbaren umweltpädagogischen Konzepten bildungsbedeutsame Aspekte zu identifizieren. Umgekehrt sollen aus der Aufarbeitung des Umweltbildungsdiskurses Kritiken und Folgerungen für eine moderne Bildungstheorie abgeleitet werden. Für diese wechselseitige Rekonstruktionsarbeit von Umweltbildung und Bildungstheorie/Theorie der Allgemeinbildung erscheint mir der Ansatz von Klafki deshalb besonders geeignet, weil er inhaltliche Anknüpfungspunkte zur Umweltbildungsdebatte (s. 2.1) und den Vorteil einer weiten und unangefochtenen[9] Verbreitung im Schulbereich in der pädagogischen und bildungspolitischen Fachöffentlichkeit sowie bei der Konkretisierung auf didaktische Fragenkomplexe bietet.[10]

Die erste Phase der Geschichte der Umweltbildung wird durch die frühe schulische Umwelterziehung und ihre Kritik sowie durch die alternativen Ansätze des Ökologischen Lernens und der Ökopädagogik geprägt. Diese sich sehr unterscheidenden und z. T. heftig bekämpfenden Ansätze eint zwar weitgehend ein instrumentelles Verständnis von Pädagogik, gleichwohl kann man einzelne bildungsrelevante Argumentationen und Aspekte identifizieren (2.2). Mitte der 80er Jahre finden sich die ersten Diskurse und Ansätze innerhalb der Umweltbildung, die man als explizite Vorstufen möglicher weitergehender bildungstheoretischer Konzepte interpretieren kann (2.3). In Abschnitt (2.4) stelle ich meine damalige Perspektive einer ökologisch orientierten Bildung (Becker 1986a) vor, aus der sich bereits eine erste konstruktive Kritik an dem kurz zuvor vorgelegten bildungstheoretischen Ansatz von Klafki formulieren läßt. Schon etwas früher entstanden von erziehungswissenschaftlicher Seite neben dem Umweltbildungsdiskurs der ersten Phase die ersten umfassender verstandenen Ansätze ‚ökologischer Bildungstheorien‘. Sie hatten eine anthropologische (Kern/Wittig 1982 u. 1985) oder systemökologische (Huschke-Rhein 1984ff) Basis, fanden jedoch wenig Resonanz (2.5).

Die Wiederaufnahme der allgemeinen Bildungsdiskussion fand vor dem Hintergrund des Wilhelm-von-Humboldt-Gedenkjahres ebenfalls Mitte der 80er Jahre einen ersten Höhepunkt. Zunächst gab es einige eher pragmatische und bildungspolitische Entwürfe, die in der Tradition der abgebrochenen Bildungsreform der 70er Jahre standen und die Ökologie als neues wichtiges Thema definierten (z. B. auch Klafki). Danach gab es unterschiedliche Rekonstruktionsversuche für neue kritische Bildungstheorien.[11] Sie waren teilweise von systemtheoretischen, postmodernistischen und schließlich konstruktivistischen (vgl. Kapitel 4) Sichtweisen und Debatten geprägt, die sich in mehren Sammelbänden und Monographien seit Ende der 80er Jahre niederschlugen. Diese Diskurse führten zu einer kritischen Differenzierung der Fragestellungen einer neuen Bildungstheorie. Ökologie oder gar Nachhaltigkeit spielten jedoch allenfalls am Rande eine Rolle (2.6).

Seit Anfang der 90er Jahre werden für die Umweltbildung Bilanzen gezogen und neue innovative Ideen entwickelt. Die Darstellung in Abschnitt 2.6.5 unterscheidet einige seither entstandene oder weitergeführte Entwicklungsstränge, z. B. kommunikative, kulturorientierte, politisch-ökonomische und naturbezogen-ganzheitliche. Den hier im Zentrum des Interesses stehenden lokalen bzw. städtischen Konzepten der Umweltbildung wird ein eigener Abschnitt 2.8 gewidmet. In diesen beiden Abschnitten werden auch einige wichtige Querverbindungen zu anderen Diskursen und zum Fortgang der allgemeinen Bildungsdiskussion erwähnt bzw. hergestellt.

Der abschließende Abschnitt dieses Kapitels (2.9) stellt eine Zwischenbilanz dar, in dem auch modifizierende Konsequenzen für den bildungstheoretischen Ansatz Klafkis gezogen werden. Die Rekonstruktion wird in Kapitel 5 unter Einbeziehung der Kapitel 3 und 4 sowie des seit etwa 1995 geführten Diskurses um eine nachhaltige Umweltbildung bzw. eine Bildung für eine nachhaltige Entwicklung fortgesetzt. Zusammenfassend und als Konkretisierung der Thesen 1.10 und 1.13 läßt sich folgende These formulieren, der zunächst in diesem Kapitel nachgegangen wird:

These 2.1     Eine problem-, theorie- und praxisgeschichtliche Rekonstruktion der Umweltbildung als integrierte, plurale und anschlußfähige Rahmentheorie muß neben den relevanten Diskussionssträngen der Umweltbildung die bildungstheoretische Debatte rezipieren, aber auch relevante gesellschaftliche Trends berücksichtigen.

Da es sich in diesem Kapitel zeigen wird, daß sich bei vielen Konzepten zumindest einzelne bildungsorientierte Elemente identifizieren lassen, kann man als Konsequenz der Rekonstruktion folgende These formulieren:

These 2.2     In der Geschichte der Umweltbildung ist ihre bildungstheoretische Fundierung angelegt.

2.1  Klafki: Epochaltypische Schlüsselprobleme

Der Ausgangspunkt von Klafki ist die kritische Aneignung des historischen bürgerlichen Bildungsdenkens der deutschen Klassik in Deutschland mit seiner aufklärerischen Zentralidee der umfassenden, d. h. theoretischen, praktischen (moralischen) und ästhetischen Vernunft im Sinne von Kant, seinen „gesellschafts- und politikkritischen“ Momenten und den zum Teil bis heute nicht eingelösten Ansprüchen. Klafki diagnostiziert lediglich zwei Hauptdefizite: keine gleichberechtigte Berücksichtigung des weiblichen Geschlechts und fehlende Reflexion des Zusammenhangs von Bildung und Gesellschaftsstruktur. Gegen alle Kritiken und Ersatzbegriffe hält Klafki an der Bedeutung und Notwendigkeit eines aktualisierten Bildungsbegriffs fest, zuletzt auch gegen postmodernistische Versuche, das Ende der Aufklärung zu verkünden (Klafki 1990): Als übergreifende pädagogische Zielkategorie sollen mit (s)einem Bildungsbegriff alle pädagogischen Einzelüberlegungen, ‑bemühungen und -aktivitäten begründet, verantwortet und so ein unverbundenes Neben- und Gegeneinander vermieden werden. Es bleibt zu prüfen, ob oder wieweit dieser Bildungsbegriff auch für die derzeitige unübersichtliche Situation der Umweltbildung, die von sich widersprechenden Konzepten geprägt ist, Bedeutung und eine integrierende Funktion gewinnen kann. Außerdem ist zu klären, inwieweit umgekehrt die Umweltbildung Rückwirkungen auf den Bildungsbegriff hat oder haben muß.

Als erste von insgesamt neun Grundbestimmungen seines neuen Allgemeinbildungskonzeptes formuliert Klafki:

Es ist die Einsicht in den dialektischen Zusammenhang zwischen den personellen Grundrechten, wie sie etwa die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen und der Grundrechtskatalog unserer Verfassung umschreiben, und der Leitvorstellung einer fundamental-demokratischen gestalteten Gesellschaft, einer konsequent freiheitlichen und sozialen Demokratie. Erst in diesem Rahmen können auch die Herausforderungen, die sich aus der Weiterentwicklung der Industriegesellschaft für die Theorie und Praxis einer neuen Allgemeinbildung ergeben, angemessen interpretiert und konstruktiv beantwortet werden. (Klafki 1993, S. 51)

Da signifikante gesellschaftliche Defizite, etwa hinsichtlich der ökologischen Krise, auf dieser grundlegenden Ebene – etwa als Verhältnis zu Natur und Umwelt – nicht erscheinen, ist nach der historischen Angemessenheit dieses Bildungsverständnisses zu fragen.

Konsequent formuliert Klafki als zweite Grundbestimmung, daß Bildung im wesentlichen heute „als selbsttätig erarbeiteter und personal verantworteter Zusammenhang dreier Grundfähigkeiten“ verstanden werden muß, die wiederum untereinander zusammenhängen: Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit.[12] Auch hier wird das Verhältnis zur Natur und Umwelt ignoriert.

Die dritte Grundbestimmung „Allgemeinbildung/allgemeine Bildung“ wird – in Abgrenzung zu konservativen Elitevorstellungen und qualifikations- oder rein wissenschaftsorientierten Modernisierungskonzepten – durch drei Bedeutungsmomente (Klafki 1993, S. 54) bestimmt: Bildung für alle, Bildung im Medium des Allgemeinen, Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten (Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit). „Bildung für alle“ ist nicht nur ein einzulösendes Bürgerrecht und Voraussetzung von Selbstbestimmung, sondern auch unbedingte Voraussetzung der anderen Grundfähigkeiten.

Die „Bildung im Medium des Allgemeinen“ als zweites Bedeutungsmoment von Allgemeinbildung ist für Klafki ihre inhaltliche Bestimmung, die im Unterschied zum früher üblichen verbindlichen Kanon von (z. T. bildungsbürgerlichen) Kulturinhalten, heute auf dem Stand eines „kritischen, historisch-gesellschaftlich-politischen und zugleich pädagogischen Bewußtseins“ universal beantwortet werden muß: Allgemeinbildung heißt, „ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und – soweit voraussehbar – der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller und die Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken“. Diese „Konzentration auf epochaltypische Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und vermutlichen Zukunft“ (Klafki 1993, S. 56) als „verbindlicher Kern des Gemeinsamen“ muß im Sinne einer „Verständigung über die gesamtgesellschaftlich-politische, meistens globale Bedeutsamkeit solcher Schlüsselprobleme als ein im Prinzip unabschließbarer Diskussionsprozeß im nationalen und internationalen Rahmen verstanden werden“ (Klafki 1995b, S. 34).[13] Daß Schlüsselprobleme nicht eindeutig bestimmbar sind, zeigt Klafki selbst: seit 1985 hat sich seine Systematik, Anzahl und Reihenfolge der Problemkreise mehrfach geändert. Diese inhaltliche Neubestimmung markiert immerhin einen erheblichen Fortschritt in der Entwicklung moderner Bildungstheorien.

Eines der Schlüsselprobleme Klafkis ist die „Umweltfrage“[14], die er als Frage nach der „Zerstörung oder Erhaltung der natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz und damit nach der Verantwortbarkeit und Kontrollierbarkeit der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung“ (Klafki 1993, S. 58) definiert.[15] Die schrittweise Entwicklung von Problembewußtsein, Einsicht in die Notwendigkeit alternativer Technologien und umweltschonendem Verhalten sowie permanenter demokratischer Kontrolle sind die wichtigsten Ziele, die in der Schule so weit wie möglich in Form handlungsorientierter Projekte in Angriff genommen werden sollen. Dies entspricht durchaus verbreiteten Zielkatalogen damaliger Umweltbildung, repräsentiert jedoch kein fundamentales Verständnis der Ökologischen Krise.

Für die bildungstheoretische Fundierung der Umweltbildung ist der folgende Gedanke Klafkis wichtig: Bei der Beschäftigung mit Themen aus dem Bereich der epochaltypischen Schlüsselprobleme geht es ihm „nicht nur um die Erarbeitung jeweils problemspezifischer, struktureller Erkenntnisse, sondern auch um die Aneignung von Einstellungen und Fähigkeiten, deren Bedeutung über den Bereich der jeweiligen epochaltypischen Schlüsselprobleme hinausreicht“ (Klafki 1993, S. 63): Kritikbereitschaft und -fähigkeit, Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit, Empathie, vernetztes Denken. Darauf wird ausführlich in 5.6 im Kontext des neueren Diskurses über (Schlüssel)Kompetenzen und Fähigkeiten eingegangen.[16]

Die zentrale Stellung der epochaltypischen Schlüsselprobleme darf aber nicht im Sinne eines neuen Omnipotenzanspruchs der Pädagogik verstanden werden, die komplexen Weltprobleme allein pädagogisch lösen zu können oder Lösungen mit eingebauter Erfolgsgarantie vermitteln zu wollen. Klafki äußerte sich dazu sinngemäß wie folgt: Konkrete Praxisbeispiele können immer nur Teilaspekte oder -bereiche von Schlüsselproblemen behandeln. Es geht darum, jeweils ein Stück weit in die Struktur der Schlüsselprobleme oder ausgewählte Teilaspekte einzudringen, vorliegende oder neue Lösungsvorschläge zu begreifen und zu erörtern, Vorsicht gegenüber Patentlösungen zu wecken, eigene Betroffenheit und überindividuelle Bedeutsamkeit zu erkennen, Mut zu kreativem und gleichwohl selbstkritischem Mitdenken über Lösungsmöglichkeiten und zum ersten Erproben zu wecken und zu stärken sowie Wege aus der Hilflosigkeit zu weisen. Elementare Handlungserfahrungen können vor allem auf folgenden Ebenen erfolgen:

  • Lerngruppe

  • Schule (innere und äußere Gestaltung)

  • kritisches und konstruktives Hineinwirken in das kommunale und regionale Umfeld, in Ausnahmefällen sogar in entferntere Gebiete.

Das erreichbare Niveau der Thematisierung hängt vom didaktischen Bewußtseinsstand der Lehrkräfte und den Ausgangsbedingungen der Lernenden und dem jeweiligen konkreten schulischen Kontext ab (Klafki 1995b, S. 36-41).

Als letzten Gesichtspunkt möchte ich die „Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ nennen: Klafki versteht darunter die Bildung der kognitiven Möglichkeiten, der handwerklich-technischen Produktivität, der zwischenmenschlichen Beziehungsmöglichkeiten (Sozialität), der ästhetischen Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Urteilsfähigkeit und derethischen und politischen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Diese Grunddimensionen unterliegen einer historischen Entwicklung. Sie sind im Sinne des Rechtes auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ unverzichtbar.[17] Mit Einschränkung fragwürdig und überprüfungswürdig erscheint die Bestimmung dieser Grunddimension als „polare Ergänzung“ (Klafki 1993, S. 69) zu der Konzentration auf die Schlüsselprobleme.

 

 

 

 

 

 

 



[1]       Sie wurde in 1.4 vorläufig begründet (These 1.13). Unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten wird der Pluralismus als mögliche grundlegende Position für die Umweltbildung in 2.6.4 thematisiert und auf einer generelleren Ebene begründet (s. 2.6.5).

[2]      Dies in der Literatur verbreitete Muster hat zur unübersichtlichen konzeptionellen Gesamtsituation der Umweltbildung beigetragen, die die Verbreitung, Aneignung und erfolgreiche Anwendung der Umweltbildung erschwert hat (These 1.4 in 1.1.2 und Fußnote 27).

[3]       Reißmann (1996) sieht in einem Umweltbildungskonzept im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung die Möglichkeit, leichter verschiedene bisherige Einzel(grund)konzepte der Umweltpädagogik von der Naturerlebnispädagogik bis zur kulturorientierten Umweltbildung zu integrieren. Eine in der Konsequenz ähnliche Position werde ich am Ende dieses Kapitel 2 vorbereiten und in Kapitel 5 im Kontext der Nachhaltigkeit genauer begründen.

[4]       Die folgenden methodischen Überlegungen zur Rekonstruktionsarbeit dieses Kapitels nehmen anregend Gedanken auf, die Hansmann und Marotzki (1988b, S. 10-12) in ihrem zweibändigen Projekt Diskurs Bildungstheorie mit dem problemgeschichtlichen und systematischen Zugang zugrundegelegt haben (s. Fußnote 99 in diesem Kapitel), unterscheiden sich jedoch in den unterschiedlichen Problemstellungen. Die Rekonstruktion der beiden Autoren bezieht sich ausschließlich auf Theorien und Diskurse, die nur bedingt ein Spiegel der realen Praxis darstellen. Auch in meiner eigenen Rekonstruktion kann die reale Praxis der Umweltbildung nicht systematisch berücksichtigt werden. Meine darüber einfließenden Aussagen und Bewertungen entspringen meinem guten Überblick über diese Praxis, der sich aus folgenden Quellen speist: Beschreibungen in der Literatur, zwanzigjährige Einbindung in die überregionale Kommunikation über Umweltbildung, die ebenso langen eigenen Erfahrungen im Bereich Hochschule, Lehreraus- und -fortbildung sowie Verbindungen zur schulischer Praxis in Osnabrück. Dies alles führte zur ständigen Reflexion und Veränderung meiner eigenen beruflichwissenschaftlichen Praxis und Theorieentwicklung. Ein sehr viel weitergehendes Verständnis von Rekonstruktion der Umweltbildung ließe sich aus dem Methodischen Kulturalismus ableiten. Die hohen Ansprüche einer normativen Begründung aus der Lebenspraxis scheinen angesichts der Diversität dieser Lebenspraxis jedoch kaum einlösbar zu sein.

[5]       Der Dimension Urbanität (s. Fußnote 5) wurde kein eigenes Kapitel gewidmet, sie kommt an verschiedenen Stellen vor, z. B. in 2.8, (s. auch Becker 1991d, 1994b, 1996b, 1997b und 1998a). Ähnliches gilt für die Dimension Regionalität und Lokalität, die konstitutiver Bestandteil einer großen Zahl von eigenen Veröffentlichung ist, die in dieser Arbeit an verschiedenen Stellen zitiert oder erwähnt werden.

[6]       Damit sind alle grundlagentheoretischen Aspekte gemeint, die das Verhältnis zur Natur betreffen: Naturphilosophie, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie hinsichtlich Natur u. ä. Hilgenheger (1997b) spricht von einem „antinaturalistischen Vorurteil“, das er aus der Geschichte des Naturverhältnisses begründet. Eine z. T. stark auf die innere und äußere Natur bezogene Argumentation findet sich in großen Teilen der historischen Reformpädagogik (vgl. Ludwig 1997).

[7]       Der systematische, d. h. von den aktuellen Problemen der ökologischen Krise bzw. der nachhaltigen Entwicklung ausgehende, nicht-affirmative und der theorie- und problemgeschichtliche Zugang fallen hier weitgehend zusammen. Denn bei den ökologischen Problemlagen handelt es sich immer um nicht eindeutig bestimmte Sichtweisen (Wirklichkeitskonstruktionen, s. Kapitel 4), die sich als argumentative Grundlagen auch in der Entwicklung und Praxis der Umweltbildung niederschlagen. Eine historisch erheblich weiter ausholende problem- und theoriegeschichtliche Rekonstruktion der Umweltbildung wäre in dem Sinne denkbar, daß man sie als Rekonstruktion des Verhältnisses von Pädagogik und Natur (genauer gesagt: den gesellschaftlichen Naturverhältnissen, s. 2.4 und 4.1) versteht. Diese Rekonstruktion würde insbesondere in der historischen Pädagogik der Aufklärung, der Reformpädagogik, der naturwissenschaftlichen Bildung, aber auch der nationalsozialistischen Pädagogik reichhaltiges Material finden. Dies kann hier nicht ausgeführt werden – vgl. die Ansätze bei Trommer (1993) und Hilgenheger (1997b).

[8]       Für die Einteilung und die Zuordnung einzelner Ansätze oder konzeptioneller Strömungen in diesem Abschnitt sowie die Reihenfolge der textlichen Darstellung gibt es keine eindeutigen Kriterien. Dies beeinträchtigt zwar die problembezogene Rekonstruktion nicht, könnte aber die Nachvollziehbarkeit erschweren.

[9]       Auf die von Giesecke (1997) mit 12jähriger Verzögerung vorgetragene Fundamentalkritik werde ich in 5.7 eingehen.

[10]     Dies ist ein entscheidender Unterschied zu etlichen anderen Ansätzen und Beiträgen zur Bildungstheorie und ist wohl mit ein Grund für die weite Verbreitung seiner im übrigen verständlich formulierten Theorie. Didaktische Aspekte werden in dieser Arbeit allerdings nur am Rande behandelt.

[11]     Die Bezeichnung kritisch wird dabei vorläufig in einem weiten, gesellschaftskritischen Sinne verstanden, d. h. Bildung steht im Kontext des Zieles einer vernünftigen Gesellschaft mit mündigen Bürgerinnen und Bürgern und nimmt auch verschiedene ältere Theorietraditionen, also Kritische Theorie der Frankfurter Schule, Kritische Erziehungswissenschaft und Teile der marxistisch-materialistischen Ansätze auf (vgl. auch Sünker/Krüger 1999).

[12]     Einen interessanten Zusammenhang dieser Fähigkeiten gibt es zum Lernbericht des Club of Rome (Botkin/Elmandjra/Malitza 1979) – vgl. 2.2.1 und Fußnote 26 in diesem Kapitel.

[13]     Zum Problem des Allgemeinen in der Bildungstheorie s. auch die Aufsätze des gleichnamigen Sammelbandes von Pleines (1987) und von Huschke-Rhein (z. B. 1986), dessen systemischer Ansatz in 2.5.2 vorgestellt wird. Klafki entwickelt hier seinen aus den 50er Jahren stammenden Ansatz einer Kategorialen Bildung, die einen Weg zwischen „materialen“ und „formalen“ Bildungstheorien zu gehen beansprucht (vgl. Klafki 1978, S. 74ff). Die Diskussion über Postmoderne (2.6.3), Pluralismus (2.6.4) und Konstruktivismus (Kapitel 4) wird zeigen, daß der Punkt der Bestimmbarkeit von Gemeinsamkeit nicht mehr selbstverständlich ist, z. T. sogar abgelehnt wird, zumindest jedoch differenziert betrachtet werden muß: Es zeichnet sich ab, daß es auch um die Bestimmung der Grenzen der Gemeinsamkeiten geht, d. h. auch um die Akzeptanz von Unterschieden als wichtige permanente Aufgabe von Bildung.

[14]     Weitere Schlüsselthemen Klafkis: Friedensfrage; Nationalitätsprinzip, Internationalität und Interkulturalität; wachsende Weltbevölkerung; gesellschaftlich produzierte Ungleichheiten; Verhältnis der Industriegesellschaften zu den sog. Entwicklungsländern; Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien; menschliche Sexualität und Geschlechterverhältnis.

[15]     In der ersten Fassung von 1985, die den Titel „Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzepts“ hatte, gab es eine größere Zahl von Problemstellungen (Klafki 1985b, S. 21). Darüber hinaus hat Klafki(1997, S. 14-18) ansatzweise auch eine Verbindung zur Debatte um nachhaltige Entwicklung hergestellt, ohne seine Grundsatzposition zu verändern.

[16]    Damit bietet Klafkis Ansatz einen weiteren Vorteil: Vergleichs- und Anschlußmöglichkeiten zur Debatte um Schlüsselkompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung.

[17]     Auch hier gibt es Unterschiede zu der Fassung aus dem Jahre 1985, bei der stärker die verschiedenen fachlichen Zugänge als polare Ergänzungen zu den Schlüsselthemen im Vordergrund standen (Klafki 1985a, S. 24ff).