2.  Von der Umwelterziehung zur ‚Umwelt-Bildung‘

aus: Becker: Urbane Umweltbildung... Opladen 2001 ( Gesamtbuch beim Autor zu erwerben)



2.8  Lokale Umweltbildung

Es war immer ein fast unumstrittenes didaktisches Postulat der Umweltbildung bzw. der Umwelterziehung, sich mit dem lokalen Umfeld in handlungsorientierter Form zu beschäftigen[196] und als Schule möglichst externe Kooperationspartner zu finden. Dennoch konnte in Deutschland bisher nirgends eine systematische flächendeckende Praxis entwickelt werden. Vor allem gilt dies für den hier vorrangig interessierenden städtischen Bereich (s. auch 2.8.1), bei dem man – gemessen an den vielfältigen und pädagogisch günstigen Möglichkeiten – ein großes Defizit der Umweltbildung mit entsprechenden politischen Implikationen konstatieren muß, das ich mit der folgenden These zusammenfassen und anschließend kurz begründen möchte:[197]

These 2.6     Die Umweltpädagogik in Deutschland ist im Hinblick auf stadtbezogene Theorien, Konzepte, Umsetzungsstrategien und vor allem erfolgreiche und wirkungsvolle Praxis vor Ort noch sehr unterentwickelt. Sie ist deshalb zur Zeit nicht in der Lage, einen relevanten Beitrag zur Entwicklung einer zukunftsfähigen Stadt zu leisten.

Betrachtet man die Hauptquellen der in diesem Kapitel dargestellten historischen Entwicklung der Umweltpädagogik, dann stellt man mehr noch in der Praxis als der Theorie ein starke Orientierung auf eine außerstädtische Natur fest, die z. T. mit ‚zivilisationskritischen‘ und ‚naturromantischen‘ Traditionssträngen verbunden ist. Ein reformpädagogisch begründetes Beispiel ist das des Regionalen Lernens (2.8.3). In der Theorie der Umweltbildung hängt diese Einseitigkeit auch mit ihrem gesellschaftswissenschaftlichen Defizit zusammen. Auf der Ebene allgemeiner umweltpädagogischer und ‑didaktischer und fachdidaktischer Literatur findet man fast keine Thematisierung der Stadt als Lebensraum und Lebensform mit den spezifischen Problem- und Handlungsfeldern, noch weniger findet man hinsichtlich einer lokalen Ebene.[198] Insofern ist die Situation der stadtbezogenen Umweltbildung nicht überraschend, zumal es vermutlich auch einen Zusammenhang mit einer ähnlichen Tradition der Bildungstheorie in Deutschland gibt (s. Exkurs 2.8.2).

Es gibt etliche engagierte Umweltpädagoginnen und Umweltpädagogen in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, die gute Arbeit leisten und auch städtische Problemfelder angehen. In Zukunft erfolgt dies vielleicht stärker unter dem Vorzeichen einer nachhaltigen Stadtentwicklung und im Kontext der Prozesse der Lokalen Agenda 21 (s. 3.5). Aber die inhaltlichen und organisatorischen Möglichkeiten isolierter Lehrkräfte sind sehr begrenzt, ihre Wirkung auf das gesamtgesellschaftliche Umweltbewußtsein oder gar -verhalten und eine nachhaltige Entwicklung dürfte schon wegen der geringen Zahl der erreichten Adressaten leider noch vernachlässigungswert sein.

2.8.1  Modellversuche in der Stadt

Die wenigen existierenden Ansätze mit städtischer Ausrichtung, die über individuelle Praxis oder die von kleinen Gruppen von Lehrkräften in reformorientierten Bildungseinrichtungen hinausreichen, befinden sich im Status von temporären Modellversuchen. Diese bieten zwar Impulse und ermöglichen wichtige Erfahrungen, eine Zukunft als Regelpraxis und gar deren gesellschaftliche Verbreiterung (Transferproblem) ist überall ungesichert. Erwähnt seien hier nur einige mir wichtig erscheinende Aspekte aus einigen Projekten[199] in Berlin, Frankfurt/Leipzig, Hannover, Marburg, Hamburg und Osnabrück sowie in Zürich als Beispiel aus der Schweiz. Gemessen an den enormen Herausforderungen stellen diese Projekte gesamtgesellschaftlich bescheidene Anfänge dar, in denen dennoch wichtige Erfahrungen gemacht und Grundlagenfragen thematisiert werden.

In Berlin hatte der vom BUND getragene Modellversuch „Schulische Umweltbildung im Ballungsraum des wiedervereinigten Berlin (SchUB)“ an ca. 20 Partnerschulen und mit einigen außerschulischen, in der stadtnahen Natur liegenden Umweltzentren, schulische Praxis vor allem auf der Ebene innerschulischer Organisationsformen unterstützt und begleitet sowie ein interschulisches Netzwerk für Umweltbildung aufgebaut.[200]

In Frankfurt und Leipzig stand der Partizipationsgedanke im Mittelpunkt eines zwölf Schulen umfassenden Modellversuchs „Kinder planen ihren Stadtteil“ und ist in Frankfurt Teil eines umfassenden kommunalen Programms „Umweltlernen“, das seinen Ausgang von dem Engagement verschiedener Dezernate der Frankfurter Stadtverwaltung nahm.[201]

In Hannover ging es im Modellversuch Schulische Umweltbildung – Entwicklung schulbezogener integrativer Umweltbildungskonzepte in der Sek. I im wesentlichen um die psychologische Ebene von Lernprozessen der Lernenden und Lehrenden im Kontext einer psychoanalytisch und gesellschaftlich aufgeklärten Bildungstheorie, die sich teilweise auch auf lokale und damit städtische Probleme bezogen hatte (vgl. z. B. Pieschl 1993 u. Ilien 1994).

Das Marburger Modell ist ein regionales, schulbezogenes Reformprojekt, das sich nicht nur inhaltlich auf die Region bezieht, sondern sich um reale Verankerung durch institutionelle Kooperation und Vernetzung der Lernorte bemüht. Das Lernorte-Netz, das vom Klassenraum bis zu regionalen Außenstationen reicht, wird auch von der Lehreraus- und -fortbildung genutzt. Als örtlicher Mittelpunkt dient ein Jugendwaldheim, das außerhalb der Stadt liegt (vgl. Bölts 1993 u. 1995). Die theoretische Grundlegung ist nur vorläufig geleistet, sie basiert einerseits auf Vorstellungen einer „ökologischen Zivilisierung“ des Mensch-Natur-Verhältnisses im Sinne von Kösters (1993), gemäß den gesellschaftskritischen Ausgangspunkten von Bölts verstanden als „zweite Aufklärung“ (Bölts 1995, S. 96ff), andererseits auf praxeologischen Vorstellungen sowie bildungstheoretischen Zielen von Heydorn und Klafki (insbesondere seinen „epochaltypischen Schlüsselproblemen“). Zentrales Ziel ist eine „ökologisch-soziale Grund- und Allgemeinbildung für alle Schülerinnen und Schüler“, die insbesondere ein „ökologisch-soziales Lernen“ in offenen Situation und in der Region umfaßt.[202]

In Hamburg wurde im Rahmen eines primär auf universitäre Ausbildungsperspektiven orientierten Projekteverbundes eine Lernortdidaktik entwickelt, die unter anderem das bisher ungenutzte Bildungspotential kommunaler Umweltplanung entdeckt hatte.[203] Es ging dabei vor allem um ökologisches und vorsorgendes Handeln, Gestalten, Planen und um ökologische Partizipation im Ballungsraum. Der theoretische Hintergrund des Lernortansatzes wurde in einem mehrdimensionalen Sinne vor allem von Schleicher (1992) formuliert: Sein allgemeiner Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß jegliches Lernen immer in räumlichen (und zeitlichen) Umwelten stattfindet und von daher geprägt ist. Dies ist ein Gedanke, der in Bildungstheorie, Pädagogik, aber auch Umweltpädagogik zu wenig bedacht wird.[204] Daraus läßt sich die Forderung ableiten, den alltäglichen Lebenszusammenhang pädagogisch zu nutzen.[205] Für die umweltpädagogische Eignung von Lernorten hat Schleicher Struktur- und Qualitätsmerkmale entwickelt, die sich auf die räumliche, sachliche, kommunikative Dimension sowie die Konflikthaltigkeit und adressatenspezifische Relevanz beziehen. Außerdem hat Schleicher eine zweidimensionale „Bestimmungs- und Erschließungsmatrix“ für Lernorte vorgelegt, die die ökologische Relevanz, pädagogische Qualitätsmerkmale, den didaktischen Zugang sowie Bearbeitungsmerkmale enthält. An Lernorten sollen beispielsweise Zielantagonismen und konkurrierende Wertorientierungen deutlich werden können, Fähigkeiten zur Analyse intransparenter (System)Zusammenhänge erworben sowie ein verantwortungsbewußtes Abwägen von Handlungsalternativen und unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten kritisch reflektiert oder erprobt werden können. Erfahrungsgeleitete Handlungskompetenzen und verantwortungsbewußte Handlungsbereitschaft im Alltagsbereich werden zwar gesellschaftlich immer wichtiger, können jedoch von der Schule und anderen Bildungseinrichtungen nicht vermittelt werden, da dort die überkommene rein fachliche Struktur noch immer dominiert. Für ein lernortbezogenes Aufbauen von diesen Kompetenzen sprechen nach Schleicher folgende Erkenntnisse: Die Kompetenzen können weder durch familiäre oder berufliche Erziehungs- und Ausbildungsfunktionen erbracht werden; die alltäglichen Auseinandersetzung mit Naturräumen für Jugendliche werden seltener; schließlich finden alltägliche Umweltbelastungen im Nahbereich weniger Beachtung als Umweltbelastungen, über die medial berichtet wird. Im Hinblick auf überregionale Problemlagen haben solche Kompetenzen exemplarischen Charakter, dabei muß auf Transfermöglichkeiten geachtet werden.[206] Lernortbezogenes Arbeiten läßt sich nach Auffassung Schleichers mit unterschiedlichen umweltpädagogischen Ansätzen verbinden, so daß beide Seiten daraus Gewinn ziehen.

In einem Forschungsprojekt in der Schweiz wurde von Kyburz-Graber/Rigendinger/Hirsch-Hadorn(1997)[207] in Zusammenarbeit mit Teams von Lehrkräften aus fünf Schulen der Sekundarstufe II ein Konzept für die Umsetzung sozio-ökologischer Umweltbildung in die Schulpraxis entwickelt und erprobt. Es basiert auf der Überlegung, daß Bildung Umweltfragen als Probleme der Lebenssituation und Handlungssituationen der Jugendlichen, die in der Regel auf lokaler Ebene liegen, thematisieren muß. Dabei ist die Mitgestaltung in Form einer teilnehmenden Lehr- und Lernkultur im Bildungsprozeß selbst zu verwirklichen. Dies gilt besonders deshalb, weil Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren auf der Suche nach einer eigenen Identität sind und die Fähigkeit erlernen sollten, die eigene und die gesellschaftliche Zukunft partizipativ mitzugestalten. Dies führt zu folgenden Leitvorstellungen (Kyburz-Graber 1997a):

        Den Ausgangspunkt bilden reale Handlungssituationen und die Problemwahrnehmung der Beteiligten.

        Im Zentrum der lokal verbindlichen und unmittelbar erfahrungsbezogen Umweltbildung steht die Wissensproduktion der Jugendlichen durch eigenes Nachforschen.

        Statt auf Aktionismus und schnelle Lösungen richtet sich Umweltbildung auf ein Wahr-Nehmen, Nach-Denken, Hinter-Fragen, Bewerten, Urteilen, Kommunizieren, Ertragen von Spannungen.

Dieser handlungsorientierte, reflexive partizipative Ansatz sozio-ökologischer Umweltbildung wird ausdrücklich – als eine der ersten neueren Konzepte in der Literatur – in den Kontext nachhaltiger Entwicklung gestellt. Kyburz-Graber u. a. grenzen sich von erziehenden Lernprozessen und politisch-pragmatischen Vorstellung instrumenteller Bildung ab. Statt dessen wird derAnsatz als zentrale Bildungsaufgabe im Sinne einer pädagogischen Bildungsidee verstanden (Klafki, Benner). Sie bezieht sich „auf den Menschen als moralisches und zur Selbstbestimmung fähiges Subjekt, auf sein Wissen, seine Fähigkeiten zu urteilen, zu abstrahieren, zu reflektieren und auf seine Handlungskompetenzen.“ Umweltbildung befaßt sich spezifisch mit den Mensch-Umwelt-Bedingungen, „mit den kollektiven und individuellen Bedingungen sowie Zwecken menschlichen Handelns, mit seinen Auswirkungen auf natürliche und soziale Systeme in der Umwelt und den Rückwirkungen auf das Handlungssystem und seine Menschen“ (Kyburz-Graber u. a. 1997, S. 41). Die Autorin verfolgt unter anderem folgende Ziele: adäquates Verständnis von Umweltproblemen; Urteilsfähigkeit; Fähigkeit zur Abstraktion situationsspezifischem Wissens; Fähigkeit, unterschiedliche Interessen, Werte und Normen in der modernen Gesellschaft zu erkennen, sich in sie einzufühlen und angesichts ihrer Folgen für Natur und Menschen zu reflektieren; Fähigkeit, Mitverantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt zu tragen, wozu auch kommunikative Kompetenz erforderlich ist.

Umweltbildung betrifft als Bildung zwar das Individuum und kann als Folge von Selbstreflexion sehr wohl einen unmittelbaren Effekt auf das Handeln der Person ausüben, ihr persönliches Alltagshandeln im Sinne der Nachhaltigkeit zu verändern. Inhalt der Bildung ist jedoch nicht das individuelle Verhalten, sondern die sozio-ökologische Dimension der Umweltproblematik. (Kyburz-Graber u. a. 1997, S. 41‑43)

Mein eigener Ansatz in Osnabrück, das Projekt NUSO, ist durch die betont urbane und lokale Orientierung charakterisiert und bemüht sich um den Aufbau einer lokalen umweltpädagogischen Infrastruktur (Umweltbildungszentrum, Lokale Vernetzung, Lokale Agenda 21 u. a.). So sollen bessere Voraussetzungen für eine breit wirkende und inhaltlich anspruchsvolle Umweltbildung vor Ort geschaffen und dadurch Beiträge zu einer zukunftsfähigen Stadt- und Regionalentwicklung geleistet werden. In der Langfassung des Namens NUSO („Natur und Umweltbildung in der Stadt Osnabrück“) kommt bereits die programmatische Orientierung auf die Stadt zum Ausdruck. Hinsichtlich seiner praktischen Seite wurde NUSO bereits in 1.6 kurz vorgestellt.

2.8.2  Exkurs: Die Stadt in der Geschichte der Pädagogik

Die konstatierten Defizite einer städtischen Orientierung führen zur allgemeinen Frage, wie sich die Pädagogik in ihrer eigenen Geschichte mit der Stadt beschäftigt hat. Die zeitliche Parallele zwischen der Herausbildung einer bürgerlichen Pädagogik und der modernen Stadt sowie strukturelle Analogien geben zur Hypothese Anlaß, daß die moderne Pädagogik auf der Ebene der realen Bildungsentwicklung Ausdruck und Spiegelbild sich zunehmend differenzierender und auseinanderentwickelnder städtischer Lebensverhältnisse sowie ihrer Krisen war und ist – bis hin zur aktuellen ökologischen Krise.

Auffallend ist die mit der Ausdifferenzierung städtischer Lebensformen einhergehende zunehmende Zersplitterung der Gegenstände pädagogischer Vermittlung und eine Nichtthematisierung der Stadt als Gesamtheit unterschiedlicher gesellschaftlicher Lebensformen. Daß städtisches Leben immer mehr zur reinen Privatangelegenheit wurde, macht bis heute einen wesentlichen Teil seiner Attraktivität aus, ist aber gleichzeitig Ursache vieler grundlegender Probleme. Bezeichnenderweise wurde die Stadt als Ganze nur in ihren Krisen thematisiert (z. B. in den Lebensreformbewegungen) und nur dann von Strömungen der Pädagogik aufgegriffen (z. B. der Reformpädagogik), jedoch im wesentlichen nur im Sinne einer Ablehnung und einer Abkehr vom städtischen Leben.[208] Da die zugrundeliegenden Krisenerfahrungen und pädagogischen Konsequenzen nur von einem kleinen Teil der städtischen Bürger geteilt wurden, waren die Lösungsmodelle nur Veränderungsstrategien für Minderheiten, die städtisches Leben insgesamt nicht veränderten. Unter den Bedingungen der aktuellen Krise und ‚unübersichtlicher‘ städtischer Strukturen ist weder eine Fortsetzung rein privatistischer Lebensformen und dazu passender herkömmlicher Bildung möglich, noch bietet eine sich primär ‚aufs Land‘ beziehende Bildung und Umweltpädagogik allein eine Perspektive (vgl. Becker 1993a). Wie bereits aus verschiedenen Blickwinkeln begründet, muß es in der aktuellen historischen Epoche Ziel einer zukunftsfähigen Pädagogik sein — im Bruch mit der Bildungstradition und der Haupttradition einer stadtabgewandten Umweltbildung — explizite Bezüge zu städtischen Lebensformen, zu städtischer Natur und dortigen realen Problemen herzustellen und so zur (Wieder)Gewinnung von neuen Vorstellungen von Urbanität beizutragen.[209] Hier liegt die Zukunft der Umweltbildung! Noch deutlicher wird dies im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung (s. Kapitel 3 und 5).

2.8.3  Regionales Lernen

Einen reformpädagogischen Hintergrund hat im Unterschied zu allen anderen in 2.8.1 vorgestellten Ansätzen das Konzept des Regionalen Lernens, das von Salzmann in einer Reihe von Aufsätzen theoretisch entwickelt und fundiert wurde.[210] Der theoretische Ausgangspunkt und Ansatz liegt nicht speziell in der Umweltbildung, sondern ist Teil eines Versuches einer „Reaktualisierung“ reformpädagogischer Gedanken. Damit verbunden ist das Ziel, zur Reform der Schule in Deutschland mit einem dialektischen Weg zwischen „Renaissance- und Fortschrittsparadigma“ beizutragen. Dabei ist das Konzept im pädagogisch-praktischen Kontext des inzwischen überregional bekannten Lernstandortes Noller Schlucht entstanden.[211] Er umfaßt unterschiedliche pädagogische Praxisbereiche und hat die Funktion eines Regionalen Umwelt-(bildungs)zentrums im südlichen Osnabrücker Raum übernommen.[212] Von daher ergibt sich die Bedeutung für die Umweltbildung.[213]

Im Mittelpunkt steht eine pädagogische Reaktualisierung und Substituierung des historisch ‚vorbelasteten‘ und pädagogisch genutzten Heimatgedankens (Salzmann 1987)[214] und eine aktuelle Verknüpfung mit partiell ähnlichen Zielen verfolgenden Strömungen der Umwelterziehung. Zur Orientierung pädagogischen Handelns werden in systematischer Analyse pädagogische Positionen der Reformpädagogik herausgearbeitet und in ein dialektisch-polares Spannungsverhältnis zu ihrem jeweiligen gedanklichen Gegenpol gesetzt. Mit dieser Strukturidee des Regionalen Lernens sollen die Polaritätsdimensionen zeit- und situationsgemäß dialektisch vermittelt werden. Die bisherige Einseitigkeit von Ansätzen, insbesondere des Heimatgedankens mit seinen Dimensionen der Vertrautheit und Nähe, sollen durch Vermittlung in Richtung Universalität, Globalität, Fremdheit, Distanz u. ä. vermieden werden.[215] Regionales Lernen umfaßt aber nicht nur die räumlich konkretisierte Dimension eines Lebensweltbezugs, sondern schließt auch „größere Horizonte (z. B. Europa)“ ein.[216] Dies betont Salzmann immer wieder in seinen Schriften, denn eine ausschließliche Orientierung an der eigenen Lebenswelt führt leicht zur „Heimatideologie und zum Regionalismus“:

Die Verwurzelung in der eigenen, primären Lebenswelt, der Heimat, gibt den Menschen die Kraft, Europa nicht als Verunsicherung, als Gefahr, sondern als persönliche und kulturelle Bereicherung zu erfahren. Umgekehrt ist die europagerichtete Orientierung notwendig, um die Ausrichtung auf die Heimat, die ja den anthropologisch notwendigen Geborgenheitsraum schafft, nicht zur Idylle oder zur Heimatideologie verkommen bzw. einengen zu lassen. (Salzmann 1995c, S. 328)[217]

Begründet wird dies im wesentlichen auf einer identitätstheoretischen Ebene: Im Mittelpunkt steht eine regionale Identität, die „gute Chancen für die Entwicklung der sozialen und persönlichen Identität und damit der Ich-Identität“ bietet. Eine regionale Identität ist dann gegeben, wenn „sich jemand besonders intensiv mit einer Region als seiner Lebenswelt verbunden weiß und sich in vielen Punkten mit ihr identifiziert“ (Salzmann 1995c, S. 328). Die Identifikation ist um so stärker, je mehr Gelegenheit besteht, an der Entstehung und Gestaltung mit zuwirken (Salzmann 1989c, S.41). Dies läßt sich als ein Plädoyer für eine moderne Partizipation auf der regionaler Ebene interpretieren. (vgl. 3.4.3).

Im Sinne des Denkens in Polaritäten muß zur Regionalen Identität in ergänzender, korrigierender und relativierender Absicht eine europäische hinzukommen. Die Vermittlung der beiden Seiten wird von Salzmann als eine zentrale politische und pädagogische Aufgabe unserer Zeit angesehen: „Pädagogisch gesehen kommt es also darauf an, die regionale Identität mit der europäischen Identität zu einer spannungsreichen, aber produktiven Synthese zu verbinden.“ (Salzmann 1995c, S. 328)[218] Trotz der Schwierigkeiten der begrifflichen Fassung der regionalen Identität, der Kritik daran und daraus resultierender Notwendigkeit der soziokulturellen Differenzierung (vgl. Kapitel 3), rückt Regionalität in den Rang einer bisher wenig beachteten Dimension der Bildungstheorie. C. Meyer spricht im Falle eines handlungsorientierten Verständnisses sogar von einem Modell zeitgemäßer Allgemeinbildung im Sinne Klafkis (Meyer, C. 1996, S. 153).[219]

Salzmann geht davon aus, daß das Regionale Lernen der Umwelterziehung besondere Chancen bietet: Der Bezug zur Region, d. h. eigenen Lebenswelt, sorgt dafür, daß umwelterzieherische Überlegungen in das Gesamt der sozialen und kulturhistorischen Entwicklungen einer Region eingeordnet werden. So wird die Umwelt nicht nur als natürliches System, sondern auch in ihrer Verflochtenheit mit historisch gewachsenen sozialen und technisch-ökonomischen Systemen gesehen. (Salzmann 1995c, S. 323f). Region wird in Abgrenzung zu Heimat und Umwelt definiert. Unter Umwelt wird „eine systemisch-funktionale Beziehung zur Lebenswelt“ verstanden. „Umwelt ist ein System von Systemen, die miteinander vernetzt sind und zu denen auch das System Mensch gehört. Die Umwelt ist unter funktionalem Aspekt die biologisch materielle und soziale Lebensgrundlage für den Menschen“ (Salzmann 1995c, S. 325).

Eine Besonderheit des Konzeptes des Regionalen Lernens im Sinne von Salzmann ist eine bestimmte Form und Funktion der Institutionalisierung an Lernstandorten neuen Typs und der Aufbau eines regionalen Netzes von Lernstandorten.[220] Im Unterschied zu Lernorten, die überall sein können (vgl. das Hamburger Lernortkonzept von Schleicher (1992) in 2.8.1), definiert Salzmann Lernstandorte wie folgt:

Zum Lernstandort wird ein Lernort dann, wenn dieser durch gezielte pädagogisch-didaktische und methodische Bemühungen adressatengerecht aufgearbeitet und für aktive Erkundungs- und Lernprozesse interessierter Gruppen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erschlossen wird und auf Dauer zur Verfügung steht. [Eine weitere Art von Lernstandorten] entsteht dann, wenn für eine bestimmte, überschaubare Region in dafür geeigneten Räumen ein Informationszentrum für Kinder, Jugendliche und Erwachsene eingerichtet wird, in dem diese – z. B. durch attraktiv gestaltete Ausstellungen – angeregt werden, die Umgebung aktiv zu erforschen und zu erkunden. Ein solches Informationszentrum soll also die Besucher aktivieren, neugierig machen, anregen, die Nahwelt unter historischem, biologischem, geographischem oder geologischem oder auch unter dem Aspekt des Umweltschutzes zu erwandern bzw. zu erkunden (Salzmann 1987b, S. 287f).

Nächster Abschnitt


[194]  Vor dem Hintergrund der ethischen Grundlagen der Nachhaltigkeitsdebatte (vgl. Kapitel 3) erweisen sich meine oben beschriebenen sozialökologischen Überlegungen aus dem Jahre 1989 als ein durchaus zukunftsweisender Ansatz.

[195]  Altner (1998), ein engagierter theologischer Vertreter einer Mitweltethik, sieht eine unmittelbare Nähe zwischen der biozentrischen Ethik von Albert Schweitzer und dem Prinzip der Nachhaltigkeit bzw. der Biodiversitätskonvention der UNO von 1992.

[196]  Ein verwandter Ansatz ist die Lebensweltorientierung, der in den 80er Jahren in der Erwachsenenbildung große Bedeutung erlangte.

[197]  Diese These entspricht der These 1 in Becker (1998a, S. 242). Auf die Frage der dennoch vorhandenen Zukunftsperspektiven einer urbanen Umweltbildung wird unter dem Aspekt der Partizipation und Modernisierung vor allem in 3.4 und 3.5 eingegangen.

[198]  Dies zeigt beispielsweise ein Blick auf die Literatur der letzten Jahre, also seit Mitte der 90er Jahre, z. B. bei den ausdrücklich auf die Zukunft der Umweltbildung bezogenen Sammelbänden Schreier (1994a), Greenpeace (1995) u. a. Selbst in der fachdidaktischen Literatur der Biologie und Geographie findet man nur wenige Beiträge zu diesem Themenbereich.

[199]  Bei den deutschen Projekten handelt es sich um BLK-Modellversuche oder Förderprojekte der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Konzepte, Zwischen- oder Endergebnisse von diesen und anderen Projekten sind leider nur teilweise veröffentlicht, so daß eine genaue externe Kenntnis erschwert ist. Außerdem bestand kein systematischer Erfahrungsaustausch, der für die beteiligten Projekte, für eine allgemeine Konzeptentwicklung und die Verbreitung stadtbezogener Ansätze sehr wichtig wäre. Auf ein außerhalb der Stadt Osnabrück (Dissen) liegendes Beispiel und Konzept (Regionales Lernen) wird in einem eigenen Abschnitt (2.8.3) eingegangen.

[200]  Vgl. die vom Modellversuch herausgegebenen Hefte „AnSchUB. Das Forum für Schulische Umweltbildung in Berlin“, insbesondere die Hefte 1/96-3/96, die eine öffentliche Abschlußbilanz und eine Darstellung möglicher Perspektiven darstellen.

[201]  Vgl. Stadtschulamt Frankfurt am Main (1995), Breh (1995), Crost (1995). Das anspruchsvolle Programm wurde jedoch zum größten Teil schon sehr bald ‚auf Eis gelegt‘.

[202]  Eine genauere, geplante theoretische Grundlegung soll in Richtung einer „Experimentellen Anthropologie zur Gestaltung der Mensch-Natur-Beziehungen im Sinne der .... ökologischen Zivilisierung“ (Bölts 1995, S. 227) gehen.

[203]  Aus der Arbeit in Hamburg sind eine Fülle von Veröffentlichungen entstanden, z. B. Schleicher 1992, Hoebel-Mävers 1992 und Gärtner 1992.

[204]  Vgl. den humanökologischen Ansatz von Mertens (1998) und die „Ökologie menschlicher Entwicklung“ von Bronfenbrenner (1981a), die beide in 2.7.2 erwähnt werden.

[205]  Schleicher macht auch den pädagogischen Kontext des Lernortansatzes deutlich, in dem er ihn mit älteren Ansätzen der Reformpädagogik (z. B. Dewey), mit aktuellen Diskussionen um Handlungsorientierung und mit Ansätzen des beruflichen Pädagogik in Deutschland, aber auch mit internationalen Tendenzen und Entwicklungen (z. B. in England) in Verbindung bringt (Schleicher 1992, S. 41ff).

[206]  Vgl. die aktuelle Debatte um die Schlüsselkompetenzen im Kontext einer nachhaltigen Bildung (s. 6.6).

[207]  Es sind eine Reihe von kleineren Veröffentlichungen dazu vorangegangen z. B. Kyburz-Graber (1997a, 1997b u. 1998).

[208]  Man kann diese Hyopthese, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann, komplementär verstehen zu der These von de Haan (1996b): „In der europäischen Bildungsgeschichte ist die Stadt ein tragischer Raum“ und sinngemäß: Bildung vollzieht sich fernab vom öffentlichen städtischen Leben, in der Innerlichkeit, in der stadtfernen Natur auf dem Lande.

[209]  Dazu kann unter anderem ein historischer Blick zurück in der eigenen Stadt dienen (vgl. Becker 1991a-d), die es auch in sinnlicher Form und hinsichtlich des in ihrer verkörperten, spezifischen Verhältnisses zur Natur zu ‚lesen‘ lernen gilt (Becker 1991e, 1993a u. 1994b).

[210]  Die zahlreichen Veröffentlichungen dazu beginnen etwa 1987. Die wichtigsten theoretischen Schriften finden sich als Wiederabdrucke in der Aufsatzsammlung Salzmann/Meyer/ Bäumer (1995), eine Auswahl weiterer Schriften in der Literaturliste.

[211]  Der Lernstandort Noller Schlucht liegt im westlichen Niedersachsen bei Dissen, etwa 30 Kilometer südlich von Osnabrück.

[212]  Dieser doppelte Hintergrund kommt deutlich in Salzmann/Meyer/Bäumer (1995) zum Ausdruck. Neben den erwähnten theoretischen Grundlagen Salzmanns (z. B. 1995a, 1995b und weitere vier Schriften) finden sich hier etliche praxisbeschreibende Aufsätze des Regionalen Lernens. Einige Aspekte dieses Ansatzes, insbesondere seine geistesgeschichtliche Verortung des Regionalen Lernens und identitätstheoretische Aspekte werden in der Dissertation von C. Meyer (1996) vertiefend geleistet. Die folgende kurze Skizzierung einiger Gedanken verzichtet auf einen genauen Quellenbeleg im Einzelfall, da sich dafür jeweils mehrere Stellen in den zahlreichen Veröffentlichungen von Salzmann finden lassen. Weitere Informationen zur Noller Schlucht auch im Internet: http://www.lkos.de/argos/ nolle/index.html.

[213]  Dieser Ansatz meines Fachbereichskollegen Salzmann hat mich darin bestärkt, meinen eigenen Schwerpunkt, der bereits Ende der 70er Jahre entstanden ist, im städtischen Bereich zu konzentrieren. Auf diese Weise konnte sich bis heute eine produktive, gegenseitige komplementäre Ergänzung der Ansätze entwickeln. Die theoretischen Grundlagen und Begründungen des Regionalen Lernens und die meines eigenen Ansatzes einer lokalen und urbanen Umweltbildung, dessen Grundlagen in dieser Arbeit systematisiert dargestellt werden, unterscheiden sich allerdings erheblich. Auf einen expliziten Vergleich soll hier jedoch weitgehend verzichtet werden. Ursprünglich gab es auch ein Konzept „Lernstandort Altstadt“ (Salzmann 1989b), das jedoch nicht realisiert werden konnte und im Unterschied zur vorrangigen Natur- und Umweltorientierung des ländlichen Umweltzentrums und Lernstandorts Noller Schlucht eine kulturell-historische Orientierung aufweisen sollte.

[214]  Dies erfolgt anfangs in einer Zeit, in der vorübergehend bundesweit der Heimatgedanken kontrovers diskutiert wurde. Trotz seiner konservativen Herkunft wurden damals auch emanzipatorische und marxistische Interpretationen (z. B. den Heimatbegriff von Ernst Bloch) entwickelt und es fanden sich unterschiedliche pädagogische Befürworter der Heimatidee. Von den zahlreichen Publikationen seien nur genannt: Knoch/Leeb (1984), Kiper (1986), Widerspruch (1987), Hasse (1989) und die umfangreichen Sammelbände zum Thema: Bundeszentrale für Politische Bildung (1990a u. 1990b).

[215]  Darüber hinaus wird das Polaritätenprofil als praktisches Planungsmodell zur zentralen gedanklichen Konstruktion des sich in Theorie und Praxis entfaltenden Regionalen Lernens verwendet (Meyer, C. 1996, S. 32).

[216]  Nach C. Meyer (1996, S, 80) versucht das „Regionale Lernen eine Gegenwirkung gegen Tendenzen in Richtung auf Individualisierung, übersteigerte Selbstverwirklichung und Egoismus“ aufzubauen, gleichzeitig wird das Regionale Lernen „als klassisches postmodernes pädagogisch-didaktisches Konzept“ angesehen – unter anderem. wegen der Vermittlung ästhetischer Umweltwahrnehmungen und Erfahrungen (Meyer, C. 1996, S. 52-79) (vgl. dagegen 2.6.3).

[217]  Dennoch bezeichnet Bernhard (1999, S. 45f) in seiner späten und polemischen Kritik das Regionale Lernen wegen des Heimatbegriffes nicht nur als neo-konservativ, sondern unterstellt eine gefährliche Nähe zu rechtsradikalem Gedankengut und behauptet pauschal, jeglicher Regionalismus habe in pädagogischen Diskursen anti-aufklärerische und anti-emanzipatorische Wirkungen. Nicht soweit geht die politische Kritik von Hüttner (1999) an jeglicher regionalen Orientierungen, die sich unter anderem auf eine undifferenzierte Verwendung regionaler Identität bezieht. (vgl. Kritik am Lokalen/Regionalen in 3.4.3).

[218]  Die identitätstheoretische Fundierung des Begriffs Regionales Lernen vertieft C. Meyer (1996) über eine historische Rekonstruktion des Heimatbegriffs und identifiziert dabei eine emotional-existentielle anthropologische Grunddimension, die aber dem Begriff Regionales Lernen andererseits entzogen zu sein scheint, da er sich über die „rational-strukturelle Dimension der individuellen Lebensweltbeziehung“ definiert (Meyer, C. 1996, S. 136).

[219]  Wie bei allen Konzepten mit weitreichenden Zielen, stellt sich die Frage, inwieweit diese Ziele, hier die regionalen Identitätsbildung und die damit konzeptionell verbundene universale Dimension, erreicht werden können. Besondere Chancen bot das mehrjährige Projekt „Renaturierung des Noller Bachs“, an dem Schulklassen langfristig und aktiv beteiligt wurden (genauere Beschreibung unter partizipatorischen Aspekten in 3.9.2). Theoretische Vorüberlegungen zu einer Evaluation finden sich bei C. Meyer (1996, S. 187ff).

[220]  Letzteres ist – z. T. auf Salzmanns Initiative und auf Basis seines Konzeptes – inzwischen im Osnabrücker Landkreis in einer besonders ausgeprägten Form realisiert worden, wenn auch die Konzepte der verschiedenen, im Lauf der Zeit entstandenen Einrichtungen inzwischen von ihren Trägern eigenständig weiterentwickelt wurden und sich nun z. T. erheblich unterscheiden. Informationen zu den Umweltbildungszentren und ihren Standorten im Osnabrücker Raum finden sich in Hurrelbrink/Köller (1999) und unter http://www.lkos.de/ argos/index.html.