2.
Von der Umwelterziehung zur ‚Umwelt-Bildung‘
aus:
Becker: Urbane Umweltbildung... Opladen 2001 (
Gesamtbuch beim Autor zu erwerben)
2.8 Lokale Umweltbildung
Es war immer ein fast unumstrittenes didaktisches
Postulat der Umweltbildung bzw. der Umwelterziehung, sich mit dem lokalen
Umfeld in handlungsorientierter Form zu beschäftigen
und als Schule möglichst externe Kooperationspartner zu finden. Dennoch konnte
in Deutschland bisher nirgends eine systematische flächendeckende Praxis
entwickelt werden. Vor allem gilt dies für den hier vorrangig interessierenden
städtischen Bereich (s. auch 2.8.1), bei dem man – gemessen an den vielfältigen
und pädagogisch günstigen Möglichkeiten – ein großes Defizit der Umweltbildung
mit entsprechenden politischen Implikationen konstatieren muß, das ich mit der
folgenden These zusammenfassen und anschließend kurz begründen möchte:
These 2.6 Die
Umweltpädagogik in Deutschland ist im Hinblick auf stadtbezogene Theorien,
Konzepte, Umsetzungsstrategien und vor allem erfolgreiche und wirkungsvolle
Praxis vor Ort noch sehr unterentwickelt. Sie ist deshalb zur Zeit nicht in der
Lage, einen relevanten Beitrag zur Entwicklung einer zukunftsfähigen Stadt zu
leisten.
Betrachtet man die Hauptquellen der in diesem
Kapitel dargestellten historischen Entwicklung der Umweltpädagogik, dann
stellt man mehr noch in der Praxis als der Theorie ein starke Orientierung auf
eine außerstädtische Natur fest, die z. T. mit ‚zivilisationskritischen‘
und ‚naturromantischen‘ Traditionssträngen verbunden ist. Ein
reformpädagogisch begründetes Beispiel ist das des Regionalen Lernens
(2.8.3). In der Theorie der Umweltbildung hängt diese Einseitigkeit auch mit
ihrem gesellschaftswissenschaftlichen Defizit zusammen. Auf der Ebene
allgemeiner umweltpädagogischer und ‑didaktischer und fachdidaktischer
Literatur findet man fast keine Thematisierung der Stadt als Lebensraum und
Lebensform mit den spezifischen Problem- und Handlungsfeldern,
noch weniger findet man hinsichtlich einer lokalen Ebene.
Insofern ist die Situation der stadtbezogenen Umweltbildung nicht überraschend,
zumal es vermutlich auch einen Zusammenhang mit einer ähnlichen Tradition der
Bildungstheorie in Deutschland gibt (s. Exkurs 2.8.2).
Es gibt etliche engagierte Umweltpädagoginnen und
Umweltpädagogen in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, die gute Arbeit
leisten und auch städtische Problemfelder angehen. In Zukunft erfolgt dies
vielleicht stärker unter dem Vorzeichen einer nachhaltigen Stadtentwicklung und
im Kontext der Prozesse der Lokalen Agenda 21 (s. 3.5). Aber die inhaltlichen
und organisatorischen Möglichkeiten isolierter Lehrkräfte sind sehr begrenzt,
ihre Wirkung auf das gesamtgesellschaftliche Umweltbewußtsein oder gar
-verhalten und eine nachhaltige Entwicklung dürfte schon wegen der geringen
Zahl der erreichten Adressaten leider noch vernachlässigungswert sein.
Die wenigen existierenden Ansätze mit städtischer
Ausrichtung, die über individuelle Praxis oder die von kleinen Gruppen von
Lehrkräften in reformorientierten Bildungseinrichtungen hinausreichen,
befinden sich im Status von temporären Modellversuchen. Diese bieten zwar
Impulse und ermöglichen wichtige Erfahrungen,
eine Zukunft als Regelpraxis und gar deren gesellschaftliche
Verbreiterung (Transferproblem) ist überall ungesichert. Erwähnt seien hier nur einige mir wichtig erscheinende
Aspekte aus einigen Projekten in Berlin, Frankfurt/Leipzig, Hannover, Marburg,
Hamburg und Osnabrück sowie in Zürich als Beispiel aus der Schweiz.
Gemessen an den enormen Herausforderungen
stellen diese Projekte gesamtgesellschaftlich bescheidene Anfänge dar, in denen
dennoch wichtige Erfahrungen gemacht und Grundlagenfragen thematisiert
werden.
In Berlin hatte der vom BUND getragene Modellversuch
„Schulische Umweltbildung im Ballungsraum des wiedervereinigten Berlin (SchUB)“
an ca. 20 Partnerschulen und mit einigen außerschulischen, in der stadtnahen
Natur liegenden Umweltzentren, schulische Praxis vor allem auf der Ebene innerschulischer Organisationsformen unterstützt
und begleitet sowie ein interschulisches Netzwerk für Umweltbildung
aufgebaut.
In Frankfurt und Leipzig stand der Partizipationsgedanke im
Mittelpunkt eines zwölf Schulen umfassenden
Modellversuchs „Kinder planen ihren Stadtteil“ und ist in Frankfurt Teil eines
umfassenden kommunalen Programms „Umweltlernen“, das seinen Ausgang von
dem Engagement verschiedener Dezernate der Frankfurter Stadtverwaltung nahm.
In Hannover ging es im Modellversuch Schulische
Umweltbildung – Entwicklung schulbezogener integrativer
Umweltbildungskonzepte in der Sek. I im wesentlichen um die psychologische
Ebene von Lernprozessen der Lernenden und Lehrenden im Kontext einer
psychoanalytisch und gesellschaftlich aufgeklärten Bildungstheorie, die sich
teilweise auch auf lokale und damit städtische Probleme bezogen hatte (vgl.
z. B. Pieschl 1993 u. Ilien 1994).
Das Marburger Modell ist ein regionales, schulbezogenes
Reformprojekt, das sich nicht nur inhaltlich auf die Region bezieht, sondern
sich um reale Verankerung durch institutionelle Kooperation und Vernetzung der
Lernorte bemüht. Das Lernorte-Netz, das vom Klassenraum bis zu regionalen
Außenstationen
reicht, wird auch von der Lehreraus- und -fortbildung genutzt. Als örtlicher
Mittelpunkt dient ein Jugendwaldheim, das außerhalb der Stadt liegt (vgl. Bölts
1993 u. 1995). Die theoretische Grundlegung ist nur vorläufig geleistet, sie
basiert einerseits auf Vorstellungen einer „ökologischen Zivilisierung“ des
Mensch-Natur-Verhältnisses im Sinne von Kösters (1993), gemäß den
gesellschaftskritischen Ausgangspunkten von Bölts verstanden als „zweite Aufklärung“
(Bölts 1995, S. 96ff), andererseits auf praxeologischen Vorstellungen
sowie bildungstheoretischen Zielen von Heydorn und Klafki (insbesondere seinen
„epochaltypischen Schlüsselproblemen“). Zentrales Ziel ist eine
„ökologisch-soziale Grund- und Allgemeinbildung für alle Schülerinnen und
Schüler“, die insbesondere ein „ökologisch-soziales Lernen“ in offenen
Situation und in der Region umfaßt.
In Hamburg wurde im Rahmen eines primär auf universitäre
Ausbildungsperspektiven orientierten Projekteverbundes
eine Lernortdidaktik entwickelt, die unter anderem das bisher
ungenutzte Bildungspotential kommunaler Umweltplanung entdeckt hatte.
Es ging dabei vor allem um ökologisches und vorsorgendes Handeln, Gestalten,
Planen und um ökologische Partizipation im Ballungsraum. Der theoretische
Hintergrund des Lernortansatzes wurde in einem mehrdimensionalen Sinne vor
allem von Schleicher (1992) formuliert: Sein allgemeiner Ausgangspunkt ist die
Erkenntnis, daß jegliches Lernen immer in räumlichen (und zeitlichen) Umwelten
stattfindet und von daher geprägt ist. Dies ist ein Gedanke, der in Bildungstheorie,
Pädagogik, aber auch Umweltpädagogik zu wenig bedacht wird.
Daraus läßt sich die Forderung ableiten, den alltäglichen Lebenszusammenhang
pädagogisch
zu nutzen.
Für die umweltpädagogische Eignung von Lernorten hat Schleicher Struktur- und
Qualitätsmerkmale entwickelt, die sich auf die räumliche, sachliche,
kommunikative Dimension sowie die Konflikthaltigkeit und adressatenspezifische
Relevanz beziehen. Außerdem hat Schleicher eine zweidimensionale „Bestimmungs-
und Erschließungsmatrix“ für Lernorte vorgelegt, die die ökologische Relevanz,
pädagogische Qualitätsmerkmale, den didaktischen Zugang sowie
Bearbeitungsmerkmale enthält. An Lernorten sollen
beispielsweise Zielantagonismen und konkurrierende Wertorientierungen deutlich
werden können, Fähigkeiten zur Analyse intransparenter (System)Zusammenhänge
erworben sowie ein verantwortungsbewußtes Abwägen von
Handlungsalternativen und unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten kritisch
reflektiert oder erprobt werden können. Erfahrungsgeleitete
Handlungskompetenzen und verantwortungsbewußte Handlungsbereitschaft im
Alltagsbereich werden zwar gesellschaftlich immer wichtiger, können jedoch von
der Schule und anderen Bildungseinrichtungen nicht vermittelt werden, da dort
die überkommene rein fachliche Struktur noch immer dominiert. Für ein
lernortbezogenes Aufbauen von diesen Kompetenzen sprechen nach Schleicher
folgende Erkenntnisse: Die Kompetenzen können weder durch familiäre oder berufliche Erziehungs- und Ausbildungsfunktionen
erbracht werden; die alltäglichen Auseinandersetzung mit Naturräumen für Jugendliche
werden seltener; schließlich finden alltägliche Umweltbelastungen im Nahbereich weniger Beachtung als Umweltbelastungen,
über die medial berichtet wird. Im Hinblick auf überregionale
Problemlagen haben solche Kompetenzen exemplarischen Charakter, dabei muß auf
Transfermöglichkeiten geachtet werden.
Lernortbezogenes Arbeiten läßt sich nach Auffassung Schleichers mit
unterschiedlichen umweltpädagogischen Ansätzen verbinden, so daß beide Seiten
daraus Gewinn ziehen.
In einem Forschungsprojekt in der Schweiz wurde von
Kyburz-Graber/Rigendinger/Hirsch-Hadorn(1997)
in Zusammenarbeit mit Teams von Lehrkräften aus fünf Schulen der Sekundarstufe
II ein Konzept für die Umsetzung sozio-ökologischer Umweltbildung in die
Schulpraxis entwickelt und erprobt. Es basiert auf der Überlegung, daß Bildung
Umweltfragen als Probleme der Lebenssituation und Handlungssituationen der Jugendlichen,
die in der Regel auf lokaler Ebene liegen, thematisieren muß. Dabei ist die
Mitgestaltung in Form einer teilnehmenden Lehr- und Lernkultur im
Bildungsprozeß
selbst zu verwirklichen. Dies gilt besonders deshalb, weil Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren auf der Suche nach einer
eigenen Identität sind und die Fähigkeit erlernen sollten, die eigene und die
gesellschaftliche Zukunft partizipativ mitzugestalten. Dies führt zu
folgenden Leitvorstellungen (Kyburz-Graber 1997a):
–
Den Ausgangspunkt bilden reale Handlungssituationen und
die Problemwahrnehmung der Beteiligten.
–
Im Zentrum der lokal verbindlichen und unmittelbar
erfahrungsbezogen Umweltbildung steht die
Wissensproduktion der Jugendlichen durch eigenes Nachforschen.
–
Statt auf Aktionismus und schnelle Lösungen richtet
sich Umweltbildung auf ein Wahr-Nehmen, Nach-Denken, Hinter-Fragen, Bewerten,
Urteilen, Kommunizieren, Ertragen von Spannungen.
Dieser handlungsorientierte, reflexive
partizipative Ansatz sozio-ökologischer Umweltbildung wird ausdrücklich
– als eine der ersten neueren Konzepte in der Literatur – in den Kontext
nachhaltiger Entwicklung gestellt. Kyburz-Graber u. a. grenzen sich von
erziehenden Lernprozessen und politisch-pragmatischen Vorstellung
instrumenteller Bildung ab. Statt dessen wird derAnsatz als zentrale
Bildungsaufgabe im Sinne einer pädagogischen Bildungsidee verstanden (Klafki,
Benner). Sie bezieht sich „auf den Menschen als moralisches und zur Selbstbestimmung
fähiges Subjekt, auf sein Wissen, seine Fähigkeiten zu urteilen, zu abstrahieren,
zu reflektieren und auf seine Handlungskompetenzen.“ Umweltbildung befaßt sich
spezifisch mit den Mensch-Umwelt-Bedingungen,
„mit den kollektiven und individuellen Bedingungen sowie Zwecken menschlichen
Handelns, mit seinen Auswirkungen auf natürliche und soziale Systeme in der
Umwelt und den Rückwirkungen auf das Handlungssystem und seine Menschen“
(Kyburz-Graber u. a. 1997, S. 41). Die Autorin verfolgt unter
anderem folgende Ziele: adäquates Verständnis von Umweltproblemen;
Urteilsfähigkeit; Fähigkeit zur Abstraktion situationsspezifischem Wissens;
Fähigkeit, unterschiedliche Interessen, Werte und Normen in der modernen
Gesellschaft zu erkennen, sich in sie einzufühlen und angesichts ihrer Folgen
für Natur und Menschen zu reflektieren; Fähigkeit, Mitverantwortung für die Gestaltung
der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt zu tragen, wozu auch kommunikative
Kompetenz erforderlich ist.
Umweltbildung betrifft als Bildung
zwar das Individuum und kann als Folge von Selbstreflexion sehr wohl einen
unmittelbaren Effekt auf das Handeln der Person ausüben, ihr persönliches
Alltagshandeln im Sinne der Nachhaltigkeit zu verändern. Inhalt der Bildung ist
jedoch nicht das individuelle Verhalten, sondern die sozio-ökologische
Dimension
der Umweltproblematik. (Kyburz-Graber u. a. 1997, S. 41‑43)
Mein eigener
Ansatz in Osnabrück, das Projekt NUSO, ist durch die betont
urbane und lokale Orientierung charakterisiert und bemüht sich um den Aufbau
einer lokalen umweltpädagogischen Infrastruktur (Umweltbildungszentrum, Lokale
Vernetzung, Lokale Agenda 21 u. a.). So sollen bessere Voraussetzungen für
eine breit wirkende und inhaltlich anspruchsvolle Umweltbildung vor Ort
geschaffen
und dadurch Beiträge zu einer zukunftsfähigen Stadt- und Regionalentwicklung
geleistet werden. In der Langfassung des Namens NUSO („Natur und Umweltbildung in der Stadt Osnabrück“) kommt
bereits die programmatische Orientierung auf die Stadt zum Ausdruck.
Hinsichtlich seiner praktischen Seite wurde NUSO bereits in 1.6 kurz
vorgestellt.
Die konstatierten Defizite einer städtischen
Orientierung führen zur allgemeinen Frage, wie sich die Pädagogik in ihrer
eigenen Geschichte mit der Stadt beschäftigt hat. Die zeitliche Parallele
zwischen der Herausbildung einer bürgerlichen Pädagogik und der modernen Stadt
sowie strukturelle Analogien geben zur Hypothese Anlaß, daß die moderne
Pädagogik auf der Ebene der realen Bildungsentwicklung Ausdruck und Spiegelbild
sich zunehmend differenzierender und auseinanderentwickelnder städtischer
Lebensverhältnisse sowie ihrer Krisen war und ist – bis hin zur aktuellen ökologischen
Krise.
Auffallend ist die mit der Ausdifferenzierung städtischer
Lebensformen einhergehende zunehmende Zersplitterung der Gegenstände
pädagogischer Vermittlung und eine Nichtthematisierung der Stadt als Gesamtheit
unterschiedlicher gesellschaftlicher Lebensformen. Daß städtisches Leben immer
mehr zur reinen Privatangelegenheit wurde, macht bis heute einen wesentlichen
Teil seiner Attraktivität aus, ist aber gleichzeitig Ursache vieler
grundlegender
Probleme. Bezeichnenderweise wurde die Stadt als Ganze nur in ihren Krisen
thematisiert (z. B. in den Lebensreformbewegungen) und nur dann von
Strömungen der Pädagogik aufgegriffen (z. B. der Reformpädagogik), jedoch
im wesentlichen nur im Sinne einer Ablehnung und einer Abkehr vom städtischen
Leben.
Da die zugrundeliegenden Krisenerfahrungen und pädagogischen Konsequenzen nur von einem kleinen Teil der städtischen Bürger
geteilt wurden, waren die Lösungsmodelle nur Veränderungsstrategien für Minderheiten,
die städtisches Leben insgesamt nicht veränderten. Unter den Bedingungen der
aktuellen Krise und ‚unübersichtlicher‘ städtischer Strukturen ist weder eine
Fortsetzung rein privatistischer Lebensformen und dazu passender herkömmlicher
Bildung möglich, noch bietet eine sich primär ‚aufs Land‘ beziehende Bildung und Umweltpädagogik allein eine Perspektive
(vgl. Becker 1993a). Wie bereits aus verschiedenen Blickwinkeln begründet, muß
es in der aktuellen historischen Epoche Ziel einer zukunftsfähigen Pädagogik
sein — im Bruch mit der Bildungstradition und der Haupttradition einer
stadtabgewandten Umweltbildung — explizite Bezüge zu städtischen Lebensformen,
zu städtischer Natur und dortigen realen Problemen herzustellen und so zur
(Wieder)Gewinnung von neuen Vorstellungen von Urbanität beizutragen. Hier liegt die Zukunft der Umweltbildung! Noch
deutlicher wird dies im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung (s.
Kapitel 3 und 5).
Einen reformpädagogischen Hintergrund hat im
Unterschied zu allen anderen in 2.8.1 vorgestellten Ansätzen das Konzept des
Regionalen Lernens, das von Salzmann in einer Reihe von Aufsätzen theoretisch
entwickelt und fundiert wurde. Der theoretische Ausgangspunkt und Ansatz liegt
nicht speziell in der Umweltbildung, sondern ist Teil eines Versuches einer
„Reaktualisierung“ reformpädagogischer Gedanken. Damit verbunden ist das Ziel,
zur Reform der Schule in Deutschland mit einem dialektischen Weg zwischen „Renaissance-
und Fortschrittsparadigma“ beizutragen. Dabei ist das Konzept im
pädagogisch-praktischen Kontext des inzwischen überregional bekannten Lernstandortes Noller Schlucht entstanden. Er umfaßt unterschiedliche pädagogische
Praxisbereiche und hat die Funktion eines Regionalen Umwelt-(bildungs)zentrums
im südlichen Osnabrücker Raum übernommen.
Von daher ergibt sich die Bedeutung für die Umweltbildung.
Im Mittelpunkt steht eine
pädagogische Reaktualisierung und
Substituierung des historisch
‚vorbelasteten‘ und pädagogisch genutzten Heimatgedankens (Salzmann 1987) und eine aktuelle Verknüpfung mit partiell
ähnlichen Zielen verfolgenden
Strömungen der Umwelterziehung. Zur Orientierung pädagogischen Handelns werden in systematischer
Analyse pädagogische Positionen der Reformpädagogik herausgearbeitet und in ein dialektisch-polares
Spannungsverhältnis zu ihrem jeweiligen gedanklichen Gegenpol gesetzt. Mit
dieser Strukturidee des Regionalen Lernens sollen die Polaritätsdimensionen
zeit- und situationsgemäß dialektisch
vermittelt werden. Die bisherige
Einseitigkeit von Ansätzen, insbesondere des Heimatgedankens mit seinen Dimensionen
der Vertrautheit und Nähe, sollen durch Vermittlung in Richtung
Universalität, Globalität, Fremdheit,
Distanz u. ä. vermieden werden. Regionales Lernen umfaßt aber nicht nur die
räumlich konkretisierte Dimension eines Lebensweltbezugs, sondern schließt auch
„größere Horizonte (z. B. Europa)“ ein. Dies betont Salzmann immer wieder in seinen
Schriften, denn eine ausschließliche Orientierung an der eigenen Lebenswelt führt leicht zur „Heimatideologie
und zum Regionalismus“:
Die Verwurzelung in der eigenen,
primären Lebenswelt, der Heimat, gibt den Menschen die Kraft, Europa nicht als
Verunsicherung, als Gefahr, sondern als persönliche und kulturelle
Bereicherung zu erfahren. Umgekehrt ist die europagerichtete Orientierung
notwendig, um die Ausrichtung auf die Heimat, die ja den anthropologisch
notwendigen Geborgenheitsraum schafft, nicht zur Idylle oder zur
Heimatideologie verkommen bzw. einengen zu lassen. (Salzmann 1995c,
S. 328)
Begründet wird
dies im wesentlichen auf einer identitätstheoretischen Ebene: Im Mittelpunkt
steht eine regionale Identität, die „gute Chancen für die Entwicklung der sozialen und persönlichen Identität und
damit der Ich-Identität“ bietet. Eine regionale Identität ist dann gegeben,
wenn „sich jemand besonders intensiv mit einer Region als seiner
Lebenswelt verbunden weiß und sich in vielen
Punkten mit ihr identifiziert“ (Salzmann 1995c, S. 328). Die
Identifikation
ist um so stärker, je mehr Gelegenheit besteht, an der Entstehung und
Gestaltung mit zuwirken (Salzmann 1989c, S.41). Dies läßt sich als ein Plädoyer
für eine moderne Partizipation auf der regionaler Ebene interpretieren. (vgl.
3.4.3).
Im Sinne des Denkens in
Polaritäten muß zur Regionalen Identität in ergänzender, korrigierender und
relativierender Absicht eine europäische hinzukommen. Die Vermittlung der
beiden Seiten wird von Salzmann als eine zentrale politische und pädagogische Aufgabe unserer Zeit
angesehen: „Pädagogisch gesehen kommt es also darauf an, die regionale Identität
mit der europäischen Identität zu
einer spannungsreichen, aber produktiven
Synthese zu verbinden.“ (Salzmann 1995c,
S. 328)
Trotz der Schwierigkeiten der begrifflichen Fassung der regionalen Identität, der Kritik daran und daraus resultierender Notwendigkeit der soziokulturellen
Differenzierung (vgl. Kapitel 3), rückt Regionalität in den Rang einer bisher
wenig beachteten Dimension der Bildungstheorie. C. Meyer spricht im Falle
eines handlungsorientierten Verständnisses sogar von einem Modell zeitgemäßer
Allgemeinbildung im Sinne Klafkis (Meyer, C. 1996, S. 153).
Salzmann geht
davon aus, daß das Regionale Lernen der Umwelterziehung besondere Chancen
bietet: Der Bezug zur Region, d. h. eigenen Lebenswelt, sorgt dafür, daß
umwelterzieherische Überlegungen in das Gesamt der sozialen und kulturhistorischen Entwicklungen
einer Region eingeordnet werden. So wird
die Umwelt nicht nur als natürliches System, sondern auch in ihrer Verflochtenheit mit historisch gewachsenen sozialen und
technisch-ökonomischen Systemen gesehen. (Salzmann 1995c, S. 323f). Region
wird in Abgrenzung zu Heimat und Umwelt definiert. Unter Umwelt wird „eine
systemisch-funktionale Beziehung zur Lebenswelt“ verstanden. „Umwelt ist ein
System von Systemen, die miteinander
vernetzt sind und zu denen auch das System Mensch gehört. Die Umwelt ist
unter funktionalem Aspekt die biologisch materielle und soziale Lebensgrundlage für den Menschen“ (Salzmann 1995c,
S. 325).
Eine Besonderheit des Konzeptes des Regionalen Lernens im
Sinne von Salzmann ist eine bestimmte Form und Funktion der
Institutionalisierung an Lernstandorten neuen
Typs und der Aufbau eines regionalen Netzes von Lernstandorten.
Im Unterschied zu Lernorten, die überall sein können (vgl. das Hamburger Lernortkonzept von Schleicher (1992)
in 2.8.1), definiert Salzmann Lernstandorte wie folgt:
Zum Lernstandort wird ein Lernort
dann, wenn dieser durch gezielte pädagogisch-didaktische und methodische
Bemühungen adressatengerecht aufgearbeitet und für aktive Erkundungs- und
Lernprozesse interessierter Gruppen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
erschlossen wird und auf Dauer zur Verfügung steht. [Eine weitere Art von
Lernstandorten] entsteht dann, wenn für eine bestimmte, überschaubare Region in
dafür geeigneten Räumen ein Informationszentrum für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene eingerichtet wird, in dem diese – z. B. durch attraktiv
gestaltete Ausstellungen – angeregt werden, die Umgebung aktiv zu erforschen
und zu erkunden. Ein solches Informationszentrum soll also die Besucher
aktivieren, neugierig machen, anregen, die Nahwelt unter historischem,
biologischem, geographischem oder geologischem oder auch unter dem Aspekt des
Umweltschutzes zu erwandern bzw. zu erkunden (Salzmann 1987b, S. 287f).