2.  Von der Umwelterziehung zur ‚Umwelt-Bildung‘

aus: Becker: Urbane Umweltbildung... Opladen 2001 ( Gesamtbuch beim Autor zu erwerben)


2.4  Ökologisch orientierte Bildung

An dieser Stelle möchte ich auf meine eigene damalige Position zur Umweltbildung zu sprechen kommen, die in zentralen Punkten bis heute unverändert geblieben und die schon damals als kritische Aneignung des Umweltbildungs- und des allgemeinen Bildungsdiskurses entstanden ist.[79] Daraus ergeben sich auch einige Kritikpunkte an Elementen des Ansatzes von Klafki, die ich weitgehend auch als Konsequenzen der bisherigen Rekonstruktion der Umweltbildung ansehe (s. Becker 1992a) und die im folgenden als eine erste Zwischenbilanz der Rekonstruktion präsentiert werden.

Zunächst war meine eigene Position von gesellschaftskritischen Positionen der Pädagogik und Konzepten der Alternativen Pädagogik der 70er Jahre geprägt. Deshalb war für mich von Beginn meiner regelmäßigen Beschäftigung mit Umweltbildung um 1978 der offensichtliche Widerspruch zwischen den als erforderlich angesehenen ‚ökologischen Notwendigkeiten‘ und dem pädagogischen und politischen Aspekt der Selbstbestimmung eine zentrale Frage (vgl. Becker 1983), die bis heute in modifizierter, aber auch erweiterter Form (Globalisierung) von unverminderter Aktualität ist. Von daher war es damals naheliegend, mich zunächst am Konzept des Ökologischen Lernens zu orientieren, das aus der Bürgerinitiativbewegung stammte und dessen Vorstellung einer subjektbetonenden Selbstbildung erhebliche Gemeinsamkeiten mit dem Bildungsbegriff hatte, der sich auf die klassische humanistische Bildung und ihre modernen kritischen Nachfolger bezieht (s. 2.3.1). Meine Mitarbeit im Zeitschriftenprojekt Ökopäd führte ebenso zu einer intensiven Auseinandersetzungen mit den damals als Hauptrichtungen angesehenen Konzepten der Umwelterziehung, des ökologischen Lernens und der Ökopädagogik wie die Reflexion eigener Erfahrungen in etlichen Jahren ökologischer Bildungsarbeit im universitären und außeruniversitären Bereich (vgl. Becker 1987). Dabei wandelte sich meine eigene Position zu einer ‚pragmatisch orientierten‘ Ökopädagogik und – im Kontext der gleichzeitigen Renaissance des Bildungsdenkens – schon früh weiter in Richtung einer allgemeineren, bildungstheoretisch ausgerichteten Position (Becker 1986a).[80] Die Entwicklung eines neuen allgemeinen Bildungsbegriffs, der damals in den Erziehungswissenschaften in die Diskussion kam (s. 2.5 und 2.6), erschien mir vor allem aus den zwei folgenden Gründen sinnvoll zu sein:

Die Trennung der pädagogischen Praxisansätze in den inhaltlich zusammenhängenden Bereichen Ökologie, Frieden, Frauen, Dritte Welt und Arbeit, die z. T. Gegenstände unterschiedlicher sozialer Bewegungen waren, erwies sich theoretisch unbefriedigend, desorientierend und handlungsbehindernd. Eine Integration in der Praxis und ein darauf basierender Bildungsbegriff (ähnlich wie bei Preuss-Lausitz, s. 2.3.4) erschien mir eine „Voraussetzung für soziale und ökologische Demokratie“ (Becker, 1986a, S. 57) zu sein.[81]

Mit den damaligen Thesen läßt sich gegenüber der Bildungstheorie von Klafki (und anderen Erziehungswissenschaftlern) kritisch anmerken, daß es nicht ohne weiteres möglich ist, bruchlos an den Grundlagen bisheriger, insbesondere klassischer Bildungstheorie anzuknüpfen oder sie lediglich zu aktualisieren: Denn der zugrundeliegende Versuch einer doppelten Emanzipation sowohl von Naturschranken und Naturzwängen, als auch von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, hat zur ökologischen Krise geführt. Das Verhältnis zur Natur und Umwelt muß deshalb neu durchdacht und gestaltet sowie auf dieser Basis ein neues Bildungsverständnis entwickelt werden. Die fundamentale Bedeutung des Verhältnisses zur Natur, die durch die Ökologische Krise zunehmend Gegenstand von Konflikten und theoretischen Diskursen wurde, konnte meiner Auffassung nach bildungstheoretisch nicht länger ignoriert werden. Das menschliche und gesellschaftliche Verhältnis zur Natur mußte in den Rang „klassischer“ Bestimmungen und Ziele der Moderne und der Aufklärung (Selbstbestimmung, Demokratie, Gleichberechtigung[82]) gehoben werden.

Statt wie Klafki vom dialektischen Zusammenhang von Gesellschaft und Individuum als Basis von Bildung auszugehen, erscheint es mir im Sinne einer erweiterten Basis einer Bildungstheorie sinnvoll, auszugehen von einem Dreieckszusammenhang von Natur, Gesellschaft und Individuum als Grundbestimmungen von Bildung bzw. eines Allgemeinbildungskonzepts.

Eine Bildungstheorie, die der Herausforderung durch die Ökologische Krise gerecht werden soll, bedarf neben der schon geläufigen geschichtsphilosophischen Fundierung einer naturphilosophischen Grundlage. (Becker 1986a, These 1)

Eine solche Fundierung, die dem Ansatz von Klafki (s.u.)[83] und den meisten anderen Bildungstheorien fehlt (vgl. auch 2.6), darf allerdings nicht in einen Ökologismus oder Naturalismus verfallen, der einigen Strömungen der Reformpädagogik und einigen ökologischen Bildungstheorien anhaftet (2.5) und einem historischen Rückfall gleichkommt (vgl. auch Becker, E. 1987, S. 14). Zu den damaligen theoretischen Grundlagen meines bildungstheoretischen Ansatzes gehörten Theorieelemente und Begrifflichkeiten aus einer bestimmten, nichtorthodoxen Interpretation der marxistischen (Natur)Philosophie und der Kritischen Theorie, über die aber in einigen wesentlichen Punkten hinausgegangen wurde. Das Ergebnis meiner damaligen Überlegungen kann man auf einer abstrakteren und konsensfähigeren Ebene wie folgt formulieren:

These 2.3     Vor dem Hintergrund der Ökologischen Krise als globales Phänomen ist eine naturtheoretische Fundierung jeder Bildungstheorie unabdingbar, d. h. „Natur“ sollte neben „Individuum“ und „Gesellschaft“ als dritte Grundbestimmung jeder Bildungstheorie berücksichtigt werden.

Solange diese Fundierung von Bildungstheorien nicht selbstverständlich ist, möchte ich sie ökologisch orientierte Bildungstheorien bezeichnen. Zwischen den drei Grundbestimmungen sind zwar verschiedene Gewichtungen denkbar, normativer Naturalismus oder Ökologismus ist jedoch ausgeschlossen.

Man kann die erweiterte Fundierung auch als Fortentwicklung des Ansatzes Klafkis auf der Ebene der Grundbestimmungen verstehen (vgl. 2.1). Einenaheliegende Konsequenz dieser dritten Grundbestimmung „Natur“ von modernen Bildungstheorien[84] sollte auf der Ebene der Grundfähigkeiten gezogen werden: Aus dem gesamten Diskurs damaliger und späterer Umweltbildung ergibt sich die Notwendigkeit der Fähigkeit eines verantwortbaren, pfleglichen Umgangs und Verhältnisses zur Natur bzw. zur Um- und Lebenswelt[85] – wie immer dies auch inhaltlich beschrieben und begründet wird. Diese unbestreitbar notwendige Fähigkeit könnte ebenfalls als vierte Grundfähigkeit die drei Grundfähigkeiten Klafkis erweitern. Ich nenne sie kurz Umweltfähigkeit.

Inhaltlich wird diese Fähigkeit in meinem theoretischen Ansatz von 1986 sehr weit gespannt und geht über den verbreitenden Begriff des Umwelthandelns hinaus. Zentrale Rolle spielt dabei der Begriff der „Entfremdung“ des Verhältnisses zur Natur. Entfremdung wird, im Unterschied zu anderen Verständnissen dieses Begriffs, soziokulturell verstanden und dient als Grundlage für die Perspektive einer Allseitigkeit im Verhältnis zur Natur und der darauf basierenden ökologisch orientierten, aber nicht naturalistisch verkürzten Bildung. Entfremdung entsteht historisch als Ausdruck zweier gegenläufiger Tendenzen: Einerseits die soziokulturell differenzierten und gesamtgesellschaftlich gesehen zahlreichen und vielfältigen Möglichkeiten des Umgangs mit der Natur, andererseits etabliert sich eine einseitige Herrschaft eines rein instrumentellen, insbesondere naturwissenschaftlich-technischen Verhältnisses zur Natur und Umwelt, die ökonomisch vorangetrieben wird und ‚Nebenwirkungen‘ erzeugt, die die vielfältigen Umgangs- und Lebensmöglichkeiten mit und in der Natur und Umwelt wieder einschränken, verdrängen, ja existenzbedrohende Folgen nach sich ziehen. Auf dieser Argumentationsbasis hatte ich drei Jahre später eine kulturorientierte Argumentation entwickelt:[86]

These 2.4     Kulturelle Orientierung: Nur eine vielfältige, alle Dimensionen des Umgangs und der Beziehungen zur Natur und Umwelt berücksichtigende Bildung kann zur Überwindung der individuellen und gesellschaftlichen Entfremdung zur Natur und Umwelt beitragen.

Diese Argumentationen [87] liefern eine weitere – damals wie heute gültige –Kritik an Klafkis bildungstheoretischen Argumentationen (s. 2.1) hinsichtlich seiner Trennung von Sachbezug („epochaltypische Schlüsselprobleme“) und „vielseitiger Interessen- und Fähigkeitsentwicklung“. Klafki unterstellt offenbar, daß die pädagogische Behandlung eines Umweltthemas ein reines Sachproblem ist, das allein auf der kognitiven Ebene betrieben wird und deshalb keine „vielseitige Interessen- und Fähigkeitsentwicklung“ ermöglicht. In der Geschichte der Umweltbildung finden sich Konzepte, die auf Prozesse setzen, die auf der subjektiven Seite die ganze Person in emotionaler, ästhetischer, praktischer oder ethischer Hinsicht, also ganzheitlich ansprechen (s. 2.3.1). Diese Konzepte werden teilweise mit dem häufig geforderten und ökologisch begründeten Bestreben nach „Ganzheitlichkeit in der Sache“ (vernetztes Denken u. ä.) verknüpft, das zur Aufklärung über Umweltprobleme und zu ihrer praktischen Lösung beitragen soll. Diese konzeptionelle Eigenschaft trifft insbesondere bei einem Teil der Konzepte mit kultureller Orientierung zu (s. 2.7.2). Eine differenzierte Bestimmung des Verhältnisses epochaltypischer Schlüsselproblemen und Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten ist für die Bildungstheorie und Umweltbildung eine konzeptionelle Aufgabe, die im einzelnen unterschiedlich gelöst werden kann. Diese Bestimmung widerspricht nicht der Intention, die Grunddimensionen Klafkis auch unabhängig von den Schlüsselproblemen im Sinne des Rechtes auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ in der curricularen Gestaltung der Schule Geltung zu verschaffen.[88]

2.5  Ökologische Bildungstheorien

Innerhalb der Erziehungswissenschaft gab es in der ersten Hälfte der 80er Jahre nur wenige Versuche, die ökologische Krise theoretisch in einer Weise zu verarbeiten, die man hinsichtlich Intention oder Ergebnis als ökologische Bildungstheorien verstehen kann oder die sich selbst so verstanden haben. Hier werden vor allem der anthropologisch ausgerichtete Ansatz von Kern und Wittig (1982 u. 1985) und der systemökologische Ansatz von Huschke-Rhein (1986) vorgestellt, die jedoch in grundlegenden Aspekten (Anti-Pluralismus, ökologischer Naturalismus, fehlende Subjektorientierung) nicht mit dem hier geleisteten Versuch einer Rekonstruktion eines offenen Verständnisses von (Umwelt)Bildung vereinbar sind.

Einen interessanten, aber abstrakt-anthropologisch bleibenden Versuch der Bestimmung von (ökologischer) Bildung unternimmt Schmitz (1991) in Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Arbeiten zum menschlichen Naturverhältnis wie denen von Theodor Litt und Karl Marx: Selbstentfremdung von der Naturgrundlage des eigenen Lebensvollzugs, Ablösung der Naturbemächtigung von ihrem menschlichen Sinne und Mißachtung der Unverfügbarkeit des Naturzusammenhang sind zentrale analytische Aussagen, aus denen Schmitz die Entfaltung der individuellen Natur des Menschen als Zentrum der Bildung ableitet und gegen die Eigendynamik des Verbundes moderner Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie stellt. Schmitz endet damit, daß das Naturverhältnis des Menschen von einer „menschlichen Haltung der Liebe zur menschlichen Natur“ geprägt werden möge (Schmitz 1991, S. 173).

2.5.1  Anthropologie und normative Pädagogik

In ihrem Buch „Pädagogik im Atomzeitalter“ (1982) definieren Kern und Wittig die Öko-Krise als „Gesamtheit der Beschädigungen und Gefährdungen des Haushalts der Natur“ einschließlich der akuten Atomkriegsgefahr. In der „Machtkonkurrenz der europäisch-neuzeitliche Zivilisation“ sehen die Autoren mit Bezug auf C. F. von Weizsäcker die Ursache und erörtern auf dieser Basis Wege zum Frieden unter den Menschen und mit der Natur. Kern und Wittig identifizieren ein weltpolitisches und anthropologisches Defizit der modernen Pädagogik, stützen sich auf den Lernbericht des Club of Rome (2.2.1), postulieren den Vorrang der Bewahrung des Ganzen vor der Verfolgung von Einzelinteressen auf allen Ebenen, kritisieren die emanzipatorische Konfliktpädagogik, aber auch die damals wieder artikulierte konservative Werterziehung. Später stellen Kern und Wittig (1985) die Frage, welche Bildung notwendig sei, damit die Menschheit im Atomzeitalter leben kann. Es geht zwar um die „Freiheit der Person“ als verbindliches Bildungsziel, aber gleichzeitig wird im Pluralismus verschiedener pädagogischer und anthropologischer Ansichten für Menschen im Atomzeitalter eine „tödliche Gefahr“ gesehen. Eine integrierende Anthropologie soll die Pluralität der Bilder vom Menschen aufheben (Kern/Wittig 1985, S. 16f) und im Bildungsprozeß werden der individualpsychologische Aspekt Selbst-„Bildung“ (Selbstwahlakte der Person), der biologische Aspekt Erb-„Bildung“ (Wachstum/Reifung), der soziologische Aspekt Fremd-„Bildung“ (Prägung/Lernen) und der – vielleicht wirksame – offenbarungstheologische Aspekt einer „Gnaden“-Wahl in „sachangemessene Zuordnung“ gebracht (s. Kern/Wittig 1985, S. 20).

Im Vorfeld einer Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) zum Thema „Allgemeinbildung“ stellte Klafki (1985) seinen in diesem Kapitel (2.1) vorgestellten neuen Bildungsbegriff vor. Kern kritisiert dessen liberalen Pluralismus, der sich „als relativistisch verhängnisvoll auswirkt“ und unterstellt eine Unentschiedenheit in Existenzfragen der Menschheit (Kern 1986, S. 7f), die auch auf einer anderen theoretischen Grundlage von Preuss-Laussitz (vgl. 2.3.4) kritisiert wurde. „Ohne Anthropologie und Ethik bleiben die Überlebensfragen der Menschheit unentschieden“ (Kern 1986, S. 11).

2.5.2  Systemökologische Pädagogik

Huschke-Rhein ist Mitherausgeber eines Bandes über „Allgemeinbildung im Atomzeitalter“ (Heitkämper/Huschke-Rhein 1986)[89] und wird später durch sein mehrbändiges Werk einer systemischen bzw. systemökologischen Pädagogik bekannt (z. B. Huschke-Rhein 1988, 1989 u. 1990).[90] Sein bildungstheoretischer Ansatz ist ein Beispiel naturalistischer Argumentation. Gegen die heutige „uniformierte, abstrakte und gleichmachende Allgemeinbildung“, die gerade nicht zur Einheit der Menschheit und zum Frieden führen kann, sondern zum Unfrieden auf allen Ebenen führen muß, setzt Huschke-Rhein als „Gegenmedizin“ die „Allgemeinheit der Natur“:

„Denn die Natur zeigt, daß wenige Grundprinzipien dennoch zu unendlicher Vielfalt führen können und nicht zu einer blöden Uniformierung. [...] Die wahre, bildungswirksame Allgemeinheit kann nie und nimmer auf den Weg weiterer Abstraktheit oder weiterer Spezialisierung gewonnen werden, und dies einfach deshalb, weil der Spezialist sich nicht mehr für die wahre Allgemeinheit des Ganzen interessiert: für den Zusammenhang der Menschen, der Lebewesen und Probleme. Wenn die Menschheit überleben will, wird sie statt mehr Spezialisten mehr „Zusammenhangsforscher“ brauchen. Allgemeinbildung ist ein Überlebensproblem. (Huschke-Rhein 1986, S. 58ff u. 78)

Bildung besteht weiterhin in der Verbindung der drei Horizonte/Ebenen Mensch-Gesellschaft-Natur.[91] Während die traditionelle Systematik seit der neuzeitlichen Wendung zur Vernunft sich auf die beiden ersten Ebenen beschränkte, müssen heute beide Ebenen mit der ökologischen Vernunft in Bezug gesetzt werden: Der Mensch muß sich neu als Vernunft- und Naturwesen begreifen lernen. Bildungsziel kann deshalb niemals die Autonomie sein, sondern nur eine integrative Autonomie durch Integration von Mensch und Gesellschaft in der Ebene Natur. So verstanden wird die – als solche durchaus sinnvolle – dreifache Bestimmung der allgemeinen Bildung durch Huschke-Rhein als Fähigkeit zu vernetzendem Denken und Handeln zu einer naturalistischen Fragwürdigkeit, weil die erst in den letzten Jahrzehnten entwickelten Systemprinzipien und ‑gesetze absoluten ontologischen Rang erhalten. Diese unbeweisbare Annahme[92] dient als entscheidende Legitimation und Begründung dafür, sie unbesehen zur alleinigen normativen Grundlage menschlichen Handelns, insbesondere im pädagogischen Bereich zu machen: Huschke-Rheins Systempädagogik befaßt sich nämlich damit, „die allgemeinen Systemgesetze, die für alle lebenden Systeme und damit auch für den Menschen gelten, als allgemeine Erziehungs- und Bildungsprinzipien zu formulieren und in die pädagogische Alltagspraxis zu übersetzen“, sonst hat die „Menschheit nicht einmal mehr eine Überlebenschance.“ Konsequent werden die drei Humboldtschen Grundbegriffe transformiert: Aus Individualität wird „Selbstsein“ (als Verbindung mit der eigenen Natur), aus Sozialität wird „mit andern sein“ (als Verbindung mit der gesellschaftlich-künstlichen Natur) und aus der Universalität wird „mit allen und allem anderen sein“ (als Verbindung mit der Gesamt-Natur). Desweiteren werden sechs allgemeine Bildungsprinzipien aus den Systemgesetzen bzw. den Grundbegriffen der Systemtheorie abgeleitet: Langfristigkeit (Langzeitperspektive), Reziprozität (Wechselwirkung), Kontext (Umwelt), Komplexität (Vernetzung), Selbstorganisation und Selbsttransparenz (integrative Autonomie), denen wiederum vier Handlungsprinzipien entsprechen (Qualitatives Wachstum, Diversität, Rezyklisierung, Energieminimierung) sowie Handlungsmaximen für jedes pädagogische Handeln: Qualität statt Quantität; Beachtung von Vielfalt: Regionalisierung, Dezentralisierung, Subsidiarität; Mehrfachnutzungen; Sparsamkeit (Huschke-Rhein 1986, S. 85). Als einziges nichtsystemisches Element werden „situative und historische Traditionen als Verhaltensregeln“ zugelassen, die mit den allgemeinen Systemprinzipien vermittelt werden müssen, die den notwendigen Rahmen konstituieren, ohne den menschliche Bildung weder denk- noch realisierbar ist. Das Verständnis von Allgemeinbildung wird dann wie folgt definiert:

Danach wollen wir beschließen, daß nur diejenigen, die die eben genannten allgemeinen Bildungsprinzipien zu Maximen ihres Handelns machen, sich heutzutage „gebildet“ oder gar, da dieses Handeln die Allgemeinheit des Naturbegriffs voraussetzt, „allgemeingebildet“‘ nennen mögen. Zusätzlich wollen wir beschließen, daß es Frieden nicht wird geben können, ohne eine solche Allgemeinbildung. (Huschke-Rhein 1986, S. 86)[93]

2.5.3  Kritik des neuen Universalismus der Bildung

E. Becker (1986a) machte anläßlich der Mitte der 80er Jahre intensiv in Gang gekommenen Bildungsdebatte (s. 2.6.) kritisch auf den entstehenden „pädagogischen Universalismus“ in den neuen Sozialen Bewegungen aufmerksam[94]: Becker sah ein Problem im Übergang vom psychisch tief verankerten, betont lokalen Denken in der Ökologiebewegung und im Konzept des Ökologischen Lernens (2.3.1) zu einem Denken in universalistischen Kategorien einer allgemeinen Umweltbildung oder gar allgemeinen Bildung, die sich integrierend auf die verschiedenen neuen Problemlagen bezieht: Umwelt, Dritte Welt usw. Die Spannung zwischen beiden Polen beinhaltet nicht nur ein schwieriges sachliches, vielleicht unlösbares Problem, es stößt bei den pädagogischen Akteuren – trotz rational kaum abweisbarer Einsicht in die Notwendigkeit – auf existierende psychische Vorbehalte gegen universalistische Projekte und Bildungsauffassungen, die im Verdacht stehen, degenerierte Formen des Neuhumanismus darzustellen (Becker, E. 1986a, S. 257). Für Anhänger der Kritischen Theorie besteht über diesen Ideologieverdacht hinaus das zusätzliche Problem, einen positiv besetzten Bildungsbegriff denken zu können, bei dem mehr als „Halbbildung“ (Adorno) herauskommt. Vor allem kritisiert E. Bek-ker die damaligen Versuche, mit Hilfe von „Supertheorien“ wie allgemeine Systemökologie, Alternative Wissenschaft im Sinne von Capra bis Huschke-Rhein (s. 2.5.2) und modernisiertem Soziobiologismus als ökologisches Denken neue Verstehensgrundlagen der Welt zu schaffen und auf dieser ungesicherten Basis Orientierungen zu gewinnen, die das Überleben der Natur und Menschen sichern sollen: „Präsentiert wird im pseudowissenschaftlichen Gewand eine neue Form des universellen Partikularismus, der scheinbar seine bürgerliche Bornierungen abgestreift hat“ (Becker, E. 1986a, S. 263f). E. Bekker scheint jedoch auch hinsichtlich neuer Bildungsbegriffe, die solchen Bornierungen nicht unterliegen, eher skeptisch zu sein:

Die verschiedenen sozialen Bewegungen erzeugen ihre pädagogischen Ableger und thematisieren die Krise jeweils auf ihre spezifische Weise. Wo die Auswege auf rein pädagogischen Wegen gesucht werden, landet man mitten im Feld der Ideologie, eine zum Problem verniedlichte Krise stößt dann die Diskurse an. (Becker, E. 1986a, S. 264).

Neben der Möglichkeit der Resignation spitzt E. Becker die Positionen der „Möglichkeiten menschlicher Befreiung unter Wahrung der Überlebensaussicht“ von Heydorn zu: „Die Möglichkeitsbedingungen von Überleben, Befreiung und universeller Bildung fallen zusammen“ (Becker, E. 1986a, S. 263f). Das Problem eines Universalismus hat im Kontext des Diskurses über nachhaltige Entwicklung im Verhältnis zu den gleichzeitigen Tendenzen der Lokalität und der Partizipation aktuelle Bedeutung.

2.6  Zur Renaissance der allgemeinen Bildungstheorie

An dieser Stelle soll ein Blick auf die allgemeine Entwicklung des Bildungsdenkens ab Mitte der 80er Jahre geworfen werden und damit zugleich auf eine Zeit, in der die Kategorie Bildung wieder zunehmende Bedeutung als pädagogischer Leitbegriff erlangte. Dabei interessieren die Fragen danach, ob und wie dort die Situation der Ökologischen Krise verarbeitet wurde, und es interessieren Entwicklungstendenzen, die auf die Umweltbildung zurückgewirkt haben oder vielleicht bei der hier versuchten Rekonstruktion Berücksichtigung finden sollten. Bei der Renaissance des Bildungsdenkens damals und in den folgenden Jahren kann man mindestens drei Hauptargumentationsstränge bzw. -ebenen identifizieren (vgl. Hansmann/Marotzki 1988a, S. 25ff):

  • Den konservativ-ideologisch und ordnungspolitisch motivierten Ruf nach einer neuen Allgemeinbildung.[95]

  • Primär bildungspolitisch formulierte Ansätze einer revidierten Allgemeinbildung.

  • Erziehungswissenschaftliche Versuche, einen kritischen Bildungsbegriff theoriegeleitet historisch-systematisch zu rekonstruieren und neu zu formulieren.

Ein zusätzlicher Anlaß für die Intensivierung der theoretischen Bildungsdiskussion Mitte der 80er Jahre war sicherlich das Gedenkjahr des 150. Todestages von Wilhelm von Humboldt, der nicht nur im Sinne eines formalen Gedenkens in Anspruch genommen wurde. Die historische Entwicklung des Bildungsbegriffs in Deutschland hatte zuvor zu einer mehrfachen Spaltung geführt. Dem humanistischen Bildungsverständnis, das im Laufe seiner Geschichte zu einem elitären sozialen Attribut bzw. einem Persönlichkeitsideal degenerierte, stand ein Begriff der Allgemeinbildung gegenüber, der sich zu einer bloß formalen Voraussetzung für akademische Berufslaufbahnen entwickelte. Außerdem war eine Vielzahl sehr differenzierter Begriffsvarianten und Wortverbindungen entstanden. Davon weitgehend abgetrennt wurden die verschiedenen Richtungen einer Kritischen Bildungstheorie entfaltet, zu denen man mit einem erweiterten Begriffsverständnis auch einen Teil derjenigen Ansätze zählen könnte, die andere pädagogische Zentralbegriffe verwendeten (vor allem den Begriff Emanzipation) und die vor allem in den 70er Jahren große Bedeutung und Einfluß erlangten (vgl. Tenorth 1986).

2.6.1  Bildungspolitische Reformansätze

Ausgehend von durchaus ähnlichen Zeitdiagnosen wurden Vorschläge veröffentlicht, die z. T. in bewußter Entgegensetzung zu den konservativen Vorschlägen an die sozial-liberale Bildungsreform der 70er Jahre anschlossen oder neue „grüne“ Varianten entwickelten.[96] All diese reformorientierten Richtungen versuchen den Bildungsbegriff inhaltlich in jeweils spezifischer Weise zu füllen und Lernprozesse unter der so definierten Leitkategorie zu reorganisieren.

Es seien einige Entwicklungen im gewerkschaftlichen Bereich beschrieben: Die als Gutachten für die Max-Traeger-Stiftung (GEW und andere Lehrerverbände) erarbeitete Schrift von Klemm, Rolff und Tillman (1985) formuliert Merkmale, die Bildung als Selbstbildung erst ermöglichen sollen: historische politische Zusammenhänge aufzeigen, Wissenschaftsorientierung und Erkenntniskritik fördern, zu Eigentätigkeit anregen, Erfahren mit Erleben verbinden, Zusammenhänge von Lebenspraxis verständlich machen, Beschränkungen von Solidarität abbauen und Lernende stärken. Das Thema Umwelt kommt nur am Rande vor, im Vordergrund steht die „Informationsgesellschaft“. Als Folge dieses Gutachtens veranstaltete die GEW 1986 einen rein schulisch ausgerichteten bildungspolitischen Kongreß Bildung für die menschliche Zukunft. Solidarität lernen – Technik beherrschen – Frieden sichern – Umwelt gestalten (Schweitzer 1986). Der Kongreß hatte das Ziel, „die konkret-utopischen Inhalte, Ziele und Strategien“ offensiver gewerkschaftlicher Bildungspolitik schwerpunktmäßig bezogen auf die im Kongreßuntertitel genannten aktuellen Themen zu umreißen und „überzeugende Zukunftsvorstellungen“ für die große Mehrheit der Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrenden zu entwerfen. Diese Bildung, von der angenommen wurde, daß sie ohne Gesellschaftsreform nicht erfolgreich sein kann, soll alle Fähigkeiten vermitteln, die zur positiven Gestaltung individueller und gesellschaftlichen Zukunft erforderlich sind. Diese Bildung verweist auf die Möglichkeit, daß Menschen lernen können, ihre Interessen zu erkennen und durchzusetzen. Kenntnisse, Einsichten, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Handeln sind Ergebnisse von Bildungsprozessen (sinngemäß aus der Einleitung Schweitzers).

Neben den einführenden Beiträgen von Fetscher (Krise der Gesellschaft und Zukunft der Bildung) und dem GEW-Vorsitzenden Wunder (Herausforderungen und Perspektiven der Bildungspolitik), sind für den umwelt- und friedenspädagogischen Bereich der stark ethisch-moralisch ausgerichtete Beitrag des sozialdemokratischen Politikers Eppler zu nennen („Liebe zum Leben“ als Aufgabe der Bildung) sowie der grün-alternativ ausgerichtete, in 2.3.4 schon vorgestellte Beitrag von Preuss-Lausitz (Thesen zur Friedens- und Umweltpädagogik) und zwei weitere kurze umweltpädagogische Beiträge der naturwissenschaftlichen Fachdidaktiker Stäudel und Freise. Die Beiträge geben insgesamt ein heterogenes Bild ab. Trotz der Kritik von Preuss-Lausitz an den (bildungs)reformorientierten Bildungsvorstellungen wurde in diesem gesellschaftlichen Bereich eine Öffnung gegenüber dem Umweltthema vorgenommenen, die konzeptionell nicht den Diskussionsstand der damaligen umweltpädagogischen Konzepte widerspiegelt. Ob die bescheidenen Wirkungsziele des Kongresses in den folgenden Jahren eingetreten sind, kann zumindest für den Umweltbildungsbereich sehr bezweifelt werden.

Auf der Grenze zwischen Bildungspolitik und kritischer Bildungstheorie kann man den Sammelband von Bernhard und Sinhart-Pallin (1989) ansiedeln, dessen Autorinnen und Autoren sich aus einer linkssozialistischen Perspektive und auf Basis materialistischer und kritischer Bildungstheorien (vorzugsweise die Varianten von Heydorn und Gamm) dem im Titel deutlich werdenden Problem Bildung für Emanzipation und Überleben stellen. Damit waren bildungspolitische Erwartungen an die Partei Die Grünen als jüngste parlamentarische Kraft im damaligen Deutschen Bundestag gerichtet: „Bildungsratschlag. Plädoyer für einen basisdemokratischen Bildungsaufbruch“ (Sinhart-Pallin 1989, S. 212ff).[97]

2.6.2  Kritische Bildungstheorie - Allgemeine Bildung

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurden einige größere erziehungswissenschaftliche Versuche der Aktualisierung der Bildungsidee in Buchform veröffentlicht, von denen hier nur auf die von Hansmann und Marotzki (1988b) und Heipcke (1989a) herausgegebene Bände eingegangen wird.[98]

Die Erziehungswissenschaftler Hansmann und Marotzki sahen in dem von ihnen herausgegebenen zweibändigen Sammelwerk die Informationsgesellschaft als Hauptherausforderung für die Erziehungswissenschaft in der gegenwärtige Transformation der Industriegesellschaft. Zudem stehen der Entsinnlichung der Arbeits- und Lebenszusammenhänge, den schnell wachsenden Wissensbeständen und dem steigenden Grad der Verwissenschaftlichung abnehmende Handlungsfähigkeiten in Bezug auf die Lösung fundamentaler Probleme (Ökologie, Arbeitslosigkeit, usw.) gegenüber. Komplexitätssteigerung und erforderliche lösungsbezogene Komplexitätsreduktion befinden sich im Ungleichgewicht. Ohnmacht, Gleichgültigkeit und ethischer Relativismus sind die kontraproduktiven Folgen. Vor dem Hintergrund dieser Situationseinschätzung muß sich nach Ansicht der Herausgeber ein systematisch und problemgeschichtlich rekonstruierter[99] Bildungsbegriff, der sich einer kritischen Theorie der Gesellschaft[100] verpflichtet weiß, systematisch auf das spannungsreiche Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beziehen und dabei die prinzipielle Differenz zwischen dem Einzelnen (auf dem normativen Fundament der Selbstbestimmung und der Autonomie des Menschen) und der Gesellschaft aufrechterhalten. Bildung muß gesellschaftliche Problemstände aufzeigen und Umgangsweisen damit entwikkeln; sie muß sich auf den ganzen Menschen beziehen, um rationalistischen Verkürzungen zu entgehen, und muß in einer Welt gesellschaftlicher Widersprüche und Problemlagen sowie widerstreitender Wertorientierungen Fähigkeiten der Kommunikation und Kritik in den Vordergrund stellen und Menschen in die Lage versetzen, in der Auseinandersetzung darüber, was es heißt, ein selbstbestimmtes, mitmenschlich verantwortbares Leben zu führen, die Stimme zu erheben (Hansmann/Marotzki 1988a).

Soweit sich in diesen allgemeinen Formulierungen und in möglichen Konsequenzen Unterschiede zum Bildungsansatz Klafkis ausmachen lassen, liegen sie vor allem in der Verwendung des Begriffs Diskurs, der sich eher an Foucault als an Habermas orientiert und damit eine Pluralität von Bezügen impliziert. Daher gingen die Herausgeber davon aus, daß Bildungstheorie nicht mehr als geschlossenes theoretisches System konzipierbar ist, sondern eher als immer wieder neu zu führender Diskurs, als „Diskurslandschaft“ verstanden bzw. abgesteckt werden sollte (Hansmann/Marotzki 1988b, S. 12f). Dies schlägt sich auch in den beiden Sammelbänden insofern nieder: es handelt sich im wesentlichen um eine Addition von etwa 35 Aufsätzen, die sich allenfalls an einem sehr weiten Rahmenkonzept der Herausgeber orientieren. Ein gemeinsamer Diskurs ist offenbar weder vorangegangen noch später erfolgt, so daß eine „genauere strukturelle und inhaltliche Ausarbeitung“ des neugefaßten Bildungsbegriffs, und auch eine ausgearbeitete Bildungstheorie, mehr als ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung noch aussteht. Ob etwas aus der eigentlich beanspruchten orientierenden Funktion für die Praxis, z. B. in der Schule geworden ist, kann nicht überprüft, aber bezweifelt werden.Die Autoren wandten sich statt dessen wohl anderen Themen zu, z. B. dem Postmodernismus (vgl. 2.6.3).[101]

Die Suche nach der Rolle der Ökologische Krise in den beiden Sammelbänden von Hansmann/Marotzki ergibt folgendes: Band 1 („systematische Markierungen“) umfaßt verschiedene Beiträge in vier kategorialen Kontexten: Arbeit; Wissenschaft und Politik; Subjektivitätskonstitution und Wirklichkeitsverarbeitung; Wertorientierung, Ethik, Religion. Hinsichtlich dieses letzten Kontextes heißt es: „Das alte ethische Problem der Verantwortung wird durch das unabweisbare ökologisch inspirierte Fragen mit aller Brisanz ins Lampenlicht der Diskussion gerückt“ (S. 15). Aus den zwei Stellen der Einleitung, an denen Ökologie bzw. ökologisch vorkommt, kann man schließen, das sich das Problem der Ökologischen Krise in den Augen der Herausgeber auf ein Problem des Umgangs mit allgemeiner und zunehmender Komplexität und ein „altes Problem der Verantwortung“ reduziert, dessen neuere Debatte sich so darstellt:

Ein Zentralproblem der neueren Diskussion über Moral- und Werteerziehung, sowie über Ethik allgemein ist die Frage, wie sich menschliches Handeln strukturiert und ob Orientierungsniveaus menschlichen Handelns als universal behauptet werden können. Während die einen auf die Notwendigkeit des Standpunktes der Moralität bestehen, indem sie z. B. Handeln von den möglicherweise unwiderruflichen Folgen des Handelns her bestimmen und begründen (Verantwortungsethik), behaupten die andern, daß eine reine verantwortungsethische Argumentation menschliches Handeln nicht durchgängig bis in die kleinsten Verästelungen zu begründen und zu orientieren vermag. (Hansmann/Marotzki 1988a, S. 28)

Der einzige Einzelbeitrag, der sich auch auf die ökologische Krise bezieht (Preuss-Lausitz), wird dieser Vorstellung, die aus meiner Sicht reduziert ist, insofern gerecht, als er sich für eine stark wertorientierte (Umwelt)Bildung ausspricht.[102] Damit zusammen hängt allenfalls noch der Beitrag von Claußen (1989), der sich im zweiten Band auf die soziologische Kategorie der Risikogesellschaft im Sinne von U. Beck bezieht.

Als diskursives Projekt angelegt war eine Ringvorlesung mit zahlreichen Klausurtagungen der Universität Kassel zum Thema „Bildung und Zukunft“, die in zwei gleichnamigen Bänden von Heipcke (1989a) und Dauber (1989) dokumentiert wurden. Im Zentrum stand die Frage nach dem Sinn der Bildung in einer bedrohten Welt, die u. U. durch die Katastrophe in Tschernobyl von 1986 geprägt war, die trotz intensiver Diskussionen sehr unterschiedliche, ja z. T. unvereinbare Antworten fand. Wenn Bildung im Sinne eines Verstehens von Welt verstanden wird und darauf zielt, diese mitgestalten zu können, wird vorausgesetzt, daß dies im Sinne einer verstehbaren und zum Menschlichen hin gestaltbaren Welt überhaupt möglich ist. Wo Menschen die Welt sich zur Fremde gemacht haben, herrscht am Ende nur noch die Gewißheit, daß die Lebensbedingungen der Menschen und die Menschheit schlechthin von Menschenhand technisch zerstört und vernichtet werden können. Deshalb kann Bildung nicht blind darauf abzielen, sich an der gewordenen Welt zu bilden; angesichts der Katastrophe müssen sich alle Beteiligten vielmehr der Ratlosigkeit stellen (Heipcke 1989a, S. 7f). Je nach Einschätzung der Versteh- und Gestaltbarkeit wurden von den Beteiligen des Projektes unterschiedliche pädagogische oder bildungstheoretische Schlüsse gezogen, die deutlich zeigen, daß heute von einem gültigen, d. h. allgemein geteilten und verbindlichen Sinn von Bildung nicht mehr gesprochen werden kann:

Diejenigen, welche die Auffassung vertraten, daß wir mehr denn je unser Denken in der Tradition der Aufklärung zu verankern hätten, um mittels einer kritischen, die Fragen von Natur und Umwelt einbegreifenden Gesellschaftstheorie eine Neuorientierung für das verantwortlich handelnde Subjekt gewinnen zu können, sahen die Aufgabe der Erziehung darin, durch kritische Reflexion in gemeinschaftlicher Praxis die gemeinsam geteilten konstitutiven Momente eines zukunftsträchtigen Verantwortungsbewußtseins freizulegen und zu leben. Jene, welche die Überwindung der durch das aufgeklärte Denken geforderten Abspaltungen als Voraussetzung dafür ansahen, daß die Welt wieder verstehbar wird und verstanden werden will, sahen die Aufgabe der Erziehung vor allem darin, Erfahrung von Ganzheit zu ermöglichen, um die notwendige Voraussetzung zur Ausweitung und Integration des Bewußtseins zu schaffen und damit auch ganz andere naturverbundene Fähigkeiten der Weltgestaltung zu eröffnen. (Heipcke 1989a, S. 8)[103]

2.6.3  Postmodernismus

Der oben beschriebene Rekonstruktionsversuch von Bildungstheorie durch Hansmann und Marotzki enthielt insofern schon Elemente eines postmodernen Denkens, als es unter anderem um Diskurs(landschaften) und Pluralität ging – auf letztere wird noch einmal in 2.6.4 eingegangen. Zu Beginn der 90er Jahre wurde vermehrt über das „Ende der Aufklärung“ geschrieben und damit auch vernunftorientierte Bildungsvorstellungen in Frage gestellt. In den Erziehungswissenschaften wurde ebenfalls eine Postmodernismus-Debatte geführt. In anderen Bereichen fand diese schon erheblich früher statt.[104] Die Diskussion um die Postmoderne ist Teil einer sehr heterogenen kulturellen Bewegung von verschiedenen „Postismen“, der es um Relativierung, um Absetzen und Bekämpfung von vorgängigen Denkmustern geht – hier der Moderne (vgl. Steinlechner 1992). Im Kern handelt es sich um Vernunft- und Rationalitätskritiken unterschiedlicher Tiefe und Reichweite. Für den thematischen Kontext dieses Kapitels bietet sich ein Blick auf den Postmodernismus-Diskurs unter anderem deshalb an, weil der ökologische Diskurs,[105] zu dessen theoretische Vorläufer man auch Teile der erkenntnis-, wissenschafts-, gesellschaftskritische Debatte um die Naturwissenschaften in der 70er Jahren zählen kann (vgl. 4.1) selbst sehr unterschiedliche Elemente der Kritik der Moderne enthielt. Insbesondere gilt dies für die kritischen Strömungen der Umweltbildung, in denen der Begriff Postmodernismus jedoch fast nicht verwendet wurde.

Eine besondere inhaltliche Bedeutung für die Grundlegung und Verbreitung des postmodernen Denkens hat die Arbeit „Das postmoderne Wissen“ von Jean-Francois Lyotard (1986), die auch in der Pädagogik rezipiert wurde.[106] Besonders bekannt geworden ist das von Lyotard positiv bewertete „Ende der großen Erzählungen“: Die Emanzipation der Menschheit im Sinne der Aufklärung, das Glücksversprechen des Kapitalismus und das Befreiungsversprechen des Marxismus zählt zu den „Meta-Erzählungen“. Diese narrative Formen der Legitimierung haben ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt und die Verbindlichkeit und Legitimation verloren.[107] Die erziehungswissenschaftliche Rezeption des Postmodernismus-Diskurses befaßt sich primär mit aufklärungs- und subjektkritischen sowie bildungstheoretischen Fragen. Schon in einer der ersten großen Textsammlungen (Krüger 1990) wurden sehr unterschiedliche Interpretationen und Bewertungen der Postmoderne und Moderne offenbar, die sich in drei Theorietypen hinsichtlich des Verhältnisses zur Moderne einteilen lassen: Diagnose des Endes der Moderne, Moderne als unvollendetes Projekt und als Zwischenweg, „Moderne als Abfolge von unterschiedlichen Modernitätsformationen“, zu dem beispielsweise die reflexive Moderne von U. Beck[108] zählt. Während Winkler (1992) in der Postmoderne erst den Anfang der Pädagogik sieht, hält Klafki ein eindeutiges Plädoyer gegen jeglichen postmodernen „Abschied von der Aufklärung“:

Demgegenüber bin ich der Auffassung, daß die Kernideen der Aufklärung in einem radikalen, d. h. an die Wurzeln gehenden Sinne nach wie vor begründbar gültig, jedoch nicht entfernt hinreichend eingelöst worden sind, daß sie also weitergedacht und weiterverfolgt werden müssen. (Klafki 1990, S. 91).

Unklar ist dabei, ob Klafki damit auch jene Rezeptionsversuche und Zwischenwege ausschließen will, die sich differenziert mit postmodernen Kritiken beschäftigen und die hierin eine Chance einer offenen, undogmatischen Aktualisierung des bisherigen modernen pädagogischen und Bildungsdenken sehen (vgl. Ruhloff 1990, 1997 u. 1998). Auch der von Marotzki und Sünker 1992 herausgegebene Sammelband versteht sich im wesentlichen in einem differenzierten Sinne. Es soll hier nur auf die Beiträge von Marotzki und Scherr und im nächsten Abschnitt zum Pluralismus auf weitere Autorinnen und Autoren eingegangen werden.

Marotzki (1992) versteht den Postmodernismus konstruktiv als Suchbewegung und seine Begriffe nicht im Sinne einer grundsätzlichen begrifflichen Dichotomie zur Moderne.[109] Seine in Anlehnung an Lyotard (1986) identifizierten gesellschaftlichen Herausforderungen (Rationalität, Wissen, Informationstechnologie; Plural der Vernunft und der Rationalität; sprachphilosophischer Thematisierungsrahmen; ontologischer Diskurs[110], ethische Grundlage, Tod des Subjekts) haben auch hinsichtlich der ökologischen Krise Implikationen. Konsequenz ist für ihn die Perspektive eines offenen wissenschaftstheoretischen Modells, das durch Kategorien wie Partikularität/Lokalität Vielheit/Pluralität, Diskontinuität u. a. gekennzeichnet ist.[111] Im selben Band unternimmt Scherr (1992, S. 101ff) den Versuch, Kritische Theorie bzw. Kritische Bildung mit Hilfe der Provokationen der postmodernen Kritik durch selektive Auswahl anknüpfungsfähiger Aspekte weiterzuentwickeln, ohne beispielsweise auf reflexives Wissen als Kritik von Macht zu verzichten oder sich auf eine pauschale postmoderne Verabschiedung von Vernunft sowie eine abstrakte Entgegensetzung von Natur, Sinnlichkeit, Gefühl und intuitiv erfaßte Ganzheitlichkeit einzulassen. Ein Kriterium objektiver Vernünftigkeit von Gesellschaft könnte nach Scherr darin zu finden sein, welche Möglichkeiten der Individuierung jeweilige Formen der Vergesellschaftung zulassen. Scherr erwähnt selbst die Prozesse der Naturzerstörung, die „als Ausdruck partikularer Interessen gelten“ können, die „nicht rational begründbare und verallgemeinerbare sind“. Bildung und speziell Umweltbildung läßt sich damit auf „gesellschaftliche Konfliktlinien beziehen, in denen Gegensätze zwischen partikularen Interessen und der Möglichkeit einer rationalen Gestaltung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse aktuell werden.“ Hier stellt sich die Frage der Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen, die durch Machtverhältnisse blockiert wird (Scherr 1992, S. 124f). In analoger Weise lassen sich beispielsweise ganzheitliche Bildungskonzepte nicht auf die Verbindung von kognitiven mit emotionalen und körperlich-sinnlichen Aspekten individueller Entwicklung reduzieren, sondern müssen auch die Erweiterung des Möglichkeitsraums selbstbewußter und selbstbestimmter Lebenspraxis zum Gegenstand machen. Bildung könnte so „Mäeutik von Gegenerfahrungen gegen gesellschaftlich zugemutete Ohnmacht“ sein (Scherr 1992, S. 137f).

Als Übergang zur Pluralismus-Debatte in der Pädagogik im nächsten Abschnitt (2.6.4) sei auf einige, für diese Arbeit relevante Aspekte und Argumentationen von Welsch (1987) eingegangen, der einen „präzisen Postmodernismus“ der „radikalen Pluralität“ sowie eine neue „transversale Vernunft“ definiert und den Postmodernismus als Fortentwicklung der Moderne des 20. Jahrhunderts einordnet („postmoderne Moderne“).[112] Welsch geht zunächst davon aus, daß der Postmodernismus keine Erfindung von Philosophen, Künstlern und anderen Personen ist, sondern unserer Realität und Lebenswelt entspricht, in der es eine Pluralität von Lebensformen, Handlungsmustern, Sozialkonzeptionen, Denktypen, Orientierungssystemen u. ä. gibt.[113] Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit stehen im Plural, Hegenomie-Anmaßungen werden zurückgewiesen. Die Postmoderne ist postmodern nur gegenüber der alten Moderne, soweit sie in Kategorien der Einheit denkt; gegenüber der Moderne des 20. Jahrhunderts ist sie nur radikaler modern, eine postmoderne Moderne.[114] Den Vorteilen einer größeren Freiheit stehen neue Problemlasten der postmoderne Pluralität und eine neue Sensibilität für diese Problemlasten gegenüber. Für Welsch ist die Postmoderne „wesentlich ethisch grundiert“ und erfordert eine neue Art des Umgangs mit Pluralität. Seine neuartige Konzeption der Vernunft, die er „transversale Vernunft“ nennt, ist positionell zwischen dem Diskursansatz von Habermas und der Betonung der Heterogenität bei Lyotard angesiedelt (Welsch 1987, S. 314): Weder werden Kommunikationsansprüche preisgegeben noch wirkliche Differenz ignoriert. Die neue Vernunft muß ihre Einheit darin finden, daß „materiale Übergänge“ zwischen den unterschiedlichen Rationalitätsformen möglich sind. „Nicht mehr kosmische, sondern irdische, nicht mehr globale, sondern verknüpfende Funktionen“ prägen das Bild der Vernunft (Welsch 1987, S. 295). Unter heutigen Bedingungen eines gesteigerten Pluralismus ist diese Aufgabe der Vernunft nach Welsch „vordringlich und obligat“ und „ist auf drei Ebenen wirksam: in Reflexionen über die Verfaßtheit der Rationalitätsformen und die Möglichkeit von Übergängen; in der Praxis solcher Übergänge; als Medium der Konfiktaustragung zwischen heterogenen Ansprüchen“ (Welsch 1987, S. 304).

Transversale Vernunft, die von „allen substantialistischen, prinzipialistischen und ganzheitlichen Auffassungen freizuhalten oder zu reinigen“ (Welsch 1987, S. 304) ist,

stellt eine Einheitsform dar, die nicht bloß formale Gemeinsamkeiten zwischen Lebensformen verständlich, sondern auch eine materiale Kooperation ihrer möglich macht und die das so tut, daß sie dabei nicht wieder stillschweigend eine Totalisierung einführt und der konventionellen Dialektik von Einheit – der Sistierung des Vielen, um dessen Produktivität es doch ginge – erliegt. Der Konzeption transversaler Vernunft könnte unter Gegenwartsgesichtspunkten ein beträchtliches Lösungspotential zukommen. (Welsch 1987, S. 312f)

Transversale Vernunft operiert in einem Bereich zwischen Modernismus und Postmodernismus, wo Einseitigkeiten nicht unterstützt, sondern korrigiert werden. „Sie knüpft Verbindungen, ohne Einheit zu erzwingen, sie überbrückt Gräben, ohne das Terrain zu planieren, sie entfaltet Diversität, ohne alles zu fragmentieren“ (Welsch 1987, S. 315). Insgesamt zeigen diese Formulierungen die potentielle Relevanz des transversalen Ansatzes einer postmodernen Moderne für den Diskurs zur nachhaltigen Entwicklung, der auf Verbindungen, Übergänge, Anschlußfähigkeiten angewiesen ist.

2.6.4  Pluralismus

Es gibt erhebliche argumentative Überschneidungen des weitverzweigten Postmodernismus-Diskurses mit dem Gedanken eines pädagogischen Pluralismus, der in der Umweltbildung – trotz der in diesem Kapitel ausgebreiteten, real existierenden Pluralität der Ansätze – noch wenig Niederschlag gefunden hat (vgl. 1.4 und Einleitung zu diesem Kapitel 2). Die Frage eines pädagogischen Pluralismus wird einerseits am Beispiel einer von Heyting und Tenorth (1994) herausgegebenen niederländisch-deutschen Publikation auf der Ebene des allgemeinen Bildungsdiskurses thematisiert, andererseits am Ansatz der „Pädagogik der Vielfalt“ von Prengel (1995).[115]

Rang unterscheidet im ersten Sammelband von Heyting und Tenorth zunächst zwischen Pluralität als Vielfalt bzw. Diversität von Wertorientierungen und Lebensformen, Theorien u. ä. und Pluralismus als grundlegende Einstellung, die sich auf verschiedene Bereiche von Diversität beziehen kann und diese jeweils als etwas Begrüßenswertes und Förderungswürdiges sieht (Rang 1994, S. 24f).[116] Es gibt einen Zusammenhang zwischen Pluralität und Pluralismus, denn die Wahrnehmung von Pluralität in einem ausgewählten Bereich ist auch eine Frage der Differenzierung der Sichtweise, somit auch Wirklichkeitskonstruktion. Insbesondere kann sie auch Produkt einer pluralistischen Einstellung sein.[117] Eine verschärfte Vorstellung von Pluralität geht in einem postmodernen Sinne davon aus, daß sie begrifflich grundsätzlich nicht auf dem Weg der Rationalität auf Einheit[118] zurückführbar ist (vgl. 2.6.3). Die verschiedenen Fassungen von Pluralität und Pluralismus bieten unterschiedliche Möglichkeiten (gesellschafts)kritischer Perspektiven.

In der Pädagogik und insbesondere der Bildungstheorie wurde die Rezeption des Pluralismus relativ spät aufgenommen[119] und hat zunächst zu heftigen Kritiken und Gegenreaktionen geführt. Sie bezogen sich bei genauer Betrachtung primär auf relativistische Positionen,[120] die in ihren Implikationen ohnehin mit einem kritischen und reflexiven Bildungsverständnis kaum vereinbar sind.[121] Die Provokationen durch den Postmodernismus-Diskurs haben zwar in der Pädagogik Impulse zugunsten eines pluralistischen Verständnisses hervorgebracht, durchgesetzt hat sich dieses Denken auf breiter Basis meinem Eindruck nach bis heute jedoch nicht. Differenzierte und reflektierte Wege zwischen absolutem Monismus und relativistischem Pluralismus kann man als ‚gemäßigten‘ Pluralismus (vgl. die Position von Rang) nennen. Sie sind hinsichtlich der Konsequenzen für die Bildung(sarbeit) sehr viel anspruchsvoller. Gestützt auf Heyting und Tenorth (1994) werden zur Charakterisierung einer solchen Zwischenposition Merkmale in Form einiger Thesen formuliert:[122]

a)      Pluralistische Bildung hat die Aufgabe, die Sensibilisierung für die Wahrnehmung von Unterschieden und die der Diversität zu erhöhen, d. h. die Erkenntnis zu vermitteln, daß man die ‚Welt‘ unterschiedlich interpretieren kann (plurale Konstruktivität).[123]

b)      Pluralität bzw. Diversität, d. h. andere und mögliche Gesichtspunkte, Beschreibungsformen, Interpretationen und Wertungen werden auf ihren jeweiligen soziokulturellen Hintergrund bezogen und selbst zum Thema der Reflexion in Bildungsprozessen gemacht.[124]

c)      Aufgefordert wird zur Explikation und Diskussion sowie zum Vergleich von Argumenten. Dabei wird angenommen, daß die Menschen konzeptuelle Perspektivwechsel vornehmen können.[125] (Eigene) Positionen sollen erweitert, differenziert, ja vielleicht sogar grundlegend korrigiert und damit individuelle und gesellschaftliche Praxis in einem pluralistischen und partizipatorischen Sinn (vgl. Kapitel 3) verändert werden.[126] Dies ist für kritische Bildungsarbeit und insbesondere die Umweltbildung ein wichtiger zusätzlicher Schritt, der über die Verarbeitung der soziokulturellen Konstitution von Erkenntnissen und Interpretationen im Sinne von Merkmal b) hinausgeht und ein notwendiger Schritt, damit eine gesellschaftsverändernde Funktion durch pluralistischer Bildung zum Tragen kommt.

d)      Eine weitere Ebene ist die Entwicklung allgemeiner Kriterien, die über ein bloßes pluralistisches ‚Geltenlassen‘ im Sinne eines kulturellen Relativismus bzw. philosophischen Kontextualismus (vgl. Haaften/Snik 1994, S. 73ff), ein Verstehen anderer und die Veränderung eigner Sichtweisen hinausgeht und einen Rahmen bildet, in dem sich die Pluralität entfalten kann. Die Kriterien sind, auch aus partizipationstheoretischen Gründen, nur aus widersprüchlich verlaufenden, sich auf umfassende Praxiserfahrungen stützende Verständigungsprozesse auf verschiedenen sozialen Aggregationsebenen zu ermitteln. Grundsätzlich gilt diese Argumentation auch für (tendenziell) universalistische Ziele im Bereich von den Nachhaltigkeitsprinzipien (vgl. Kapitel 3) und der Menschenrechte u. ä. Auch diese Ziele stellen temporäre, sozialpragmatische Perspektiven dar, die aufgrund ihrer größeren sozialen Basis und ihrer langandauernden partizipatorischen Erarbeitung stabiler und nur in langen Prozessen veränderbar sind. Es gibt dann zwar „massenhaft funktionierende Verständigungen, aber es gibt keine a priori gegebenen Grundlagen, die sicherstellen können, daß diese Verständigungen (oder wenigsten einige von ihnen) für alle Zukunft gelten werden“ (Luhmann 1992, S. 187f). Es gibt dann aber auch keine Beliebigkeit der mannigfaltigen Interpretationen der Welt.

Diese vier Merkmale a) bis d) eines solchen ‚gemäßigten‘ Bildungspluralismus kann man als allgemeine Stufen von Bildung verstehen, die von einem bloß wahrnehmenden über einen verstehenden und reflektierenden hin zu einem verständigungsbezogenen und Übergänge suchenden, schließlich zu einem verändernden und letztlich kriterienbildenden Anspruch führen. Aus dieser Perspektive kann man pluralistische Auffassungen, soweit sie von einem postmodernen Heterogenitätsprinzip oder auf einem absoluten Relativismus basieren, als unterste Stufe dieser Art eines gemäßigten Pluralismus verstehen. Die oberste Stufe kennzeichnet eine allgemeine kritische Ausrichtung von Bildung. Die Stufen kann man also als Qualitätsstufen des Bildungskonzeptes verstehen.

e)      Pluralismus betrifft beim Lernen auch die Richtung der Abstraktionsprozesse. Statt einer relativistisch-pluralistischen Entscheidung zugunsten der diversifizierenden Konkretionen oder der gegenteiligen unifizierenden Abstraktionen sind Lern- und Erkenntnisprozesse am ehesten durch die Möglichkeit gekennzeichnet ..., daß „Perspektivenwechsel“ und „Übergänge“ vorgenommen werden können durch ein flexibles, bisweilen geradezu spielerisches Hin und Her zwischen „Synthesis“ und „Dysthesis“. (Rang 1994, S. 40)

Spätestens hier werden Ähnlichkeiten mit der postmodern modernen Argumentation von Welsch deutlich (vgl. 2.6.3).

f)      Verschiedene pluralistische Grundsatzpositionen stellen in unterschiedlichem Grade auch den Anspruch und die Möglichkeit einer einheitlichen und verbindlichen Allgemeinbildung in Frage: Im Unterschied zum traditionalen Bildungsbegriff und seinem festen Bildungskanon, impliziert die stärkere Kontext- und Kulturgebundenheit der Inhalte moderner gemäßigt pluralistischer Bildungsbegriffe eine größere Bedeutung der formale Seite. Festgehalten wird in der Regel an übertraditionalen, universalen Denkformen, die in der kritischen Tradition im Sinne aufgeklärter Wissenschaft oder Moral verstanden werden. Darauf basieren dann moderne Vorstellungen von Allgemeinbildung (z. B. Klafki in 2.1), die in dreifachem Sinne allgemein sind: Bildungsideale und -inhalte für alle, allgemeine und universelle Denkformen, alle Bereiche des Denkens. Relativistisch-pluralistische Positionen, die diese Basis auf keiner der drei Ebenen anerkennen, besitzen keine Möglichkeit Allgemeinbildung zu definieren (Haaften/Snik 1994, S. 76-79).

Die Universalität unserer Denkformen kann in einem „genetisch-strukturalistischen“ Sinne zumindest relativiert werden: Dabei wird davon ausgegangen, daß es in verschiedenen Bereichen des Denkens und Urteilens (z. B. im materialen, sozialen, ethischen, ästhetischen, philosophischen und logischen Bereich) Rationalitätsstrukturen gibt, die durch einen mehrstufigen individuellen und kollektiven historischen Entwicklungsprozeß bis hin zu kritischen Positionen zustande kommen.[127] Dann kann insofern an der Vorstellung der Allgemeingültigkeit und damit einer Allgemeinbildung festgehalten werden, als die verschiedenen Formen in eine hierarchische Ordnung von Stufen bis hin zu einer jeweiligen „postkonventionellen Stufe“ gebracht werden können (Haaften/Snik 1994, S. 69ff).

Eine solche Stufung der Bildung hat den Vorteil, daß eine vorab vorzunehmende konzeptionelle Unterscheidung für oder gegen eine kritische Ausrichtung der Gesamttheorie überflüssig ist. Kritische Bildung ist als Potential und Entwicklungsstufe in einem allgemeineren Bildungsverständnis enthalten. Die Realisierung des kritischen Anspruchs entscheidet sich dann erst in der Praxis, also daran, inwieweit es gelingt – in jeweiliger Verbindung zu aktuellen inhaltlichen Fragen (Themen der nachhaltigen Entwicklung, epochaltypische Schlüsselthemen) und unter Berücksichtigung der Lerninteressen und -fähigkeiten der Lernenden – höhere Stufen der Bildungs- bzw. Fähigkeitsentwicklung in den verschiedenen Bereichen zu erreichen. Eine solche Sichtweise kritischer Bildung dürfte auf der Theorieebene jedoch umstritten sein, sie widerspricht Vorstellungen, die auf dem Heterogenitätspostulat relativistischer Varianten pluralistischen oder postmodernen Denkens basieren.[128]

Diese Differenzierung der Bildung in Bereiche des Denkens und Urteilens oder in Dimensionen der formalen Fähigkeitsentwicklung (s. Klafki in 2.1 und 5.6) eröffnet durch unterschiedliche Gewichtungen der Bereiche und Dimensionen von Bildung zahlreiche Möglichkeiten innerhalb dieses kategorialen Rahmens.[129] Dazu zählen auch Möglichkeiten, die den Schwerpunkt auf einen einzigen Bereich oder eine Dimension legen, z. B. ästhetische Bildung. Man kann in diesem Sinne auch von einer Pluralität von Bildungspraxen, Bildungsvorstellungen bzw. Bildungstheorien sprechen.

Sünker (1994), der vor allem auf Heydorn (1970) und Lefebvre (1987) zurückgreift, geht es darum, die Pluralismus-Problematik im Kontext des Individualisierungsdiskurses und die Subjekt- oder Autonomieproblematik im Kontext gesellschaftskritisch argumentierender Bildungstheorie und darin eingebundener Utopiepotentiale zu diskutieren. Schon U. Beck hat in seiner Analyse und Darstellung des gegenwärtig konstatierbaren Individualisierungsprozesses betont:

An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewußtseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen. (Beck 1986, S. 211)

Vor diesem Hintergrund verdinglichter Strukturen des Alltagslebens gilt es für eine kritische und reflektierte Bildungstheorie die Konstitutionsbedingungen von Subjektivität im Sinne eines realen Pluralismus der Lebensformen und einer emanzipatorischer Entfaltung menschlicher Bedürfnisse zu prüfen. Hier gibt es einen engen Zusammenhang zu einem partizipationsorientierten Bildungsverständnis (vgl. Kapitel 3.).

Um eine allzu naive Begrüßung einer pluralistischen Grundhaltung zu verhindern, sollte eine reflektierte Bildungstheorie darüber hinaus zweierlei berücksichtigen: Dem Gewinn an Subjektivität durch Pluralismus, den Pädagoginnen und Pädagogen begrüßen (müßten), steht zum einen eine größere ‚Unübersichtlichkeit‘ gegenüber. Diese kann bei den Lernenden zu zeitweisen Desorientierungen führen und insofern für die pädagogische Praxis eine zusätzliche Heraus- oder auch Überforderung darstellen.[130] Pluralismus kann zum anderen nach Heid (1994b) eine beliebige Verwendbarkeit begünstigen oder bezwecken, unterschiedliche Interpretationen, Widersprüche und Konflikte entproblematisieren, entpolitisieren oder gar verschleiern, gegen Kritik immunisieren und zur Entlastung von Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Denkens und Handelns beitragen. Dies muß letztlich kein Widerspruch zum Dogmatismus darstellen (Heid 1994b, S. 127). Heid plädiert deshalb dafür, Pluralität durch Kritik zu ersetzen, wobei die Denk- und Redefreiheit des Kritikers sowie der Schutz des Kritikers gegen Sanktionen gewährleistet werden muß. Diese Kritik trifft für die hier favorisierten, reflexionsorientierten pluralistischen Varianten zumindest von ihrem theoretischen Ansatz her kaum zu.

Einen anderen, stärker aus der pädagogischen und bildungspolitischen Praxis stammenden Ausgangspunkt wählt Prengel für ihre „Pädagogik der Vielfalt“: Vor dem Hintergrund der interkulturellen, der feministischen und der integrativen Pädagogik geht es ihr um die Entwicklung eines Bildungsverständnisses, das sich als Beitrag zur Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses, zur Entfaltung kulturellen Reichtums und zum Respekt vor Individualität in der Erziehung versteht.[131] „Kann pädagogisches Handeln der geschlechtlichen, kulturellen und individuellen Verschiedenheit der Menschen gerecht werden, wie kann Pädagogik das demokratische Prinzip der Gleichberechtigung verwirklichen?“ (Prengel 1995, S. 15). Emanzipatorisches Bildungsideal, Kritische Theorie und pluralitätstheoretischen Positionen des Postmodernismus (vor allem Lyotard und Welsch) sind Prengels theoretische Basis.

Die Begriffe Gleichheit und Differenz dienten in der europäischen politischen Geschichte der Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit (konservative Hierarchisierung der Differenzen) und den Emanzipationsbestrebungen, die in der Regel universelle Gleichheit als gesellschaftlich herzustellenden Zustand forderten, faktisch sich jedoch meist nur für die Einlösung bürgerlicher Gleichheitsforderungen für die eigene Gruppe einsetzen. Universelle Fassungen des Gleichheitsprinzips ohne Ausgrenzungen oder Einschränkung auf bestimmte Handlungs- oder Lebensräume sind sehr selten. Auch in den Zukunftsvorstellungen der Emanzipationsbewegungen gibt es nach Prengel kaum Platz für Unterschiedlichkeit, da sie als zu eng an die zu überwindende Ungleichheit gebunden empfunden wurde. Im Hauptstrom demokratischer Denktraditionen in Europa wurde deshalb kein emanzipatorisches Konzept von Verschiedenheit ausgebildet. Zukünftige Gleichheitsvorstellungen müßten sich mehr an Gleichberechtigung, die sich als Bedingung der Möglichkeit von Vielfalt versteht, orientieren (Prengel 1995, S. 35).

Prengel lehnt sich an die Schlüsselerfahrung der Pluralität[132] und das darauf bauende Konzept einer „Radikalen Pluralität“ von Welsch (s. 2.6.3) an, kritisiert jedoch an diesem Konzept zweierlei: Mit Lyotards Heterogenitäts-Theorem vernachlässigt die transversale Vernunft die nicht vollständig auflösbare Inkommensurabilität der Sinnsysteme der verschiedenen Subjekte. Welsch beschränkt sich zu sehr auf eine abstrakt philosophische Theorieebene und auf gesellschaftliche ‚Randbereiche‘ der Architektur, Literatur und Malerei (Prengel 1995, S. 52f).

Für den demokratischen, also egalitären Differenzbegriff[133] Prengels gilt unter anderem folgendes: Differenz beinhaltet immer Offenheit für Unvorhersagbares und Inkommensurables; Differenz bezieht sich auf mehrere Ebenen menschlicher Heterogenität (Mikro- und Makroebenen). Individuelle und kollektive Differenzen sind soziokulturelle Differenzen; Lebensweisen und Kulturen sind in ständiger Veränderung begriffen. Differenzen sind nur als historisch gewordene begreifbar. Die Option für Differenz ist eine Option gegen Hegemonie; es gilt gleiches Existenzrecht für unterschiedliche Lebensformen. Idealisierungen von ausgegrenzten und zu fördernden Gruppen und Lebensweisen sollten vermieden und auf ‚puristische‘ Differenzvorstellungen und Konservierung von Lebensweisen sollte verzichtet werden. „Demokratische Politik und Pädagogik müssen jeweils situationsspezifisch klären, welche Gleichheiten und welche Differenzen sie wollen“ (Prengel 1995, S. 184). Hier ist der partizipatorische Aspekt angesprochen. Im Hinblick auf die Schule geht es Prengel um „den gleichberechtigten Zugang zu den materiellen und personellen Ressourcen der Schule, ... um auf Basis solcher Gleichberechtigung die je besonderen, vielfältigen Lern- und Lebensmöglichkeiten zu entfalten“, der in Form von 17 Thesen konkretisiert wird, z. B.: Selbstachtung und Anerkennung der Anderen, Kennenlernen der Anderen, Entwicklungen zwischen Verschiedenen, innerpsychische Heterogenität, Kollektivität: Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, Aufmerksamkeit für die individuelle und kollektive Geschichte und für gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen sowie Achtung vor der Mitwelt.[134]

2.6.5  Schlußfolgerung für die Umweltbildung

Pluralistisches Denken in seinen unterschiedlichen Varianten kann man auch auf die Ebene der Konzept- und Theorieentwicklung beziehen und dabei vorhandene und frühere Ansätze als Material verwenden, sie reflektieren, rekonstruieren und eventuell integrieren. Dies bedeutet Verzicht auf ‚harte Alternativen‘ von Theorieentscheidungen (vgl. Rang 1994, S. 32f). Diese Grundhaltung liegt diesem Kapitel bzw. der Arbeit insgesamt zugrunde.

Obwohl die meisten der in den Abschnitten 2.6.1.-2.6.4 gesichteten bildungstheoretischen Ansätze, insbesondere der bildungsbezogene Postmodernismus- und Pluralismus-Diskurs nicht explizit das Mensch-Natur-Verhältnis thematisierten, konnten direkt einige Konsequenzen für die Frage einer ökologischen oder nachhaltigen Orientierung von Bildung abgeleitet oder als Problem formuliert werden. Der zwar nicht kontinuierlich verlaufende, aber immer noch andauernde Bildungsdiskurs verstärkt die hier verfolgte Perspektive einer Umweltbildung, die den zweiten Teil des Begriffs betont (Umwelt-Bildung), ja macht sie zur Notwendigkeit. Insbesondere ist es fortan nicht mehr begründbar, Umweltbildung als konstitutiver Teil einer modernen Bildung von einer pluralistischen Orientierung auszunehmen oder sich im Sinne einer naiven Fortsetzung der Aufklärung zu verstehen. Letzteres traf in der Vergangenheit nur für einige der Konzepte der Umweltbildung zu, die in der Praxis allerdings dominierten (vgl. 2.2-2.5). Damit kann man den grundsätzlich (gemäßigt)pluralistischen, d.h. in oben beschriebenen Sinne verständigungsorientierten Ansatz in dieser Arbeit, der in These 1.13 (Kapitel 1) für die Schule und am Anfang von Kapitel 2 postuliert wurde, als bestätigt ansehen. Allgemeiner gilt:

These 2.5     Umweltbildung ist konstitutiver Teil einer pluralistischen und verständigungsorientierten Bildung. Ihre bildungstheoretische fundierte Fundierung bildet ein Gegengewicht zu jeglichen Instrumentalisierungen.

Die Notwendigkeit eines Pluralismus wird sich jedoch noch durch die weitere Rekonstruktion der Umweltbildung in den folgenden Abschnitten verstärken und sich im Rahmen der Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung und des damit verbundenen Prinzips der Partizipation (vgl. Kapitel 3) als unausweichlich erweisen.

nächster Abschnitt


[79]    Ein Teil dieses Diskurses wird erst in 2.5 und 2.6 dargestellt, weil meine eigene Position sich primär an 2.2 und 2.3 anschließt.

[80] Dies kommt schon im Titel Nicht nur ökologische Akzente setzen. Bildungstheoretische Perspektiven angesichts der Ökologischen Krise deutlich zum Ausdruck. Eine erste Fassung entstand für den Vorbereitungsreader einer Tagung im Jahr 1986 in Frankfurt („Bildungstag“) und war Diskussionsgrundlage, die später erweitert und modifiziert wurde. Im Mittelpunkt des Aufsatzes stehen zwölf längere Thesen.

[81]     Dieser Gedanke einer ‚bereichsübergreifenden‘ Perspektive, die in den folgenden Thesen nicht weiter angesprochen wird, ist direkt an die aktuelle Debatte um Bildung im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung anschließbar (vgl. Kapitel 5). Während diese Perspektive damals die Position einer kleinen intellektuellen Minderheit darstellte, ist die Position heute, in sehr allgemeiner Ausprägung, in offiziellen, internationalen Dokumenten nachzulesen, die von fast allen Staaten dieser Welt unterzeichnet wurden (Agenda 21). Einen fundamentalen inhaltlichen Unterschied gibt es jedoch im Bereich der Ökonomie, auf die im Anschluß an die Thesen eingegangen wird.

[82]     Daß diese obersten Ziele Produkte historischer Entwicklung und sozialer Auseinandersetzungen sind, sieht man am Beispiel der späten und allmählichen Anerkennung, daß die Gleichberechtigung der Frauen nötig ist. Ähnliches muß für das Verhältnis zur Natur in einem längeren Prozeß eingelöst werden.

[83]    Für Klafki gilt offenbar, daß ökologische Probleme nur im Rahmen des „dialektischen Zusammenhang[s] zwischen den personalen Grundrechten, wie sie etwa die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen und der Grundrechtskatalog unserer Verfassung umschreiben, und der Leitvorstellung einer fundamental-demokratisch gestalteten Gesellschaft, einer konsequent freiheitlichen und sozialen Demokratie“ (Klafki 1993, S. 51) gelöst werden können.

[84]     Aus heutiger Sicht beinhaltet dies den nachhaltigen Umgang mit Natur, Um- und Lebenswelt. Diese Überlegungen zu Fähigkeiten, Kompetenzen u. ä. werden in 5.6.3ff fortgesetzt. Auch Klafki (1997) hat sich inzwischen mit der Nachhaltigkeitsdebatte und den dort diskutierten Leitbildern beschäftigt, darauf werde ich in 5.1.1 eingehen.

[85]     Die Formulierung verantwortbarer Umgang wird dabei in einem weiten Sinne, d. h. nicht ausschließlich im Sinne einer bestimmten Verantwortungsethik verstanden und scheint mir offener zu sein als andere denkbare Bezeichnungen wie schonender, ökologischer, humaner, oder pfleglicher Umgang u. ä. (s. Michelsen 1990). Der Begriff drückt jedenfalls aus, daß er mit einem – wie auch immer bestimmten – sozialen Prozeß seiner genaueren Bestimmung zu tun hat. Die Hinzunahme von Um- und Lebenswelt ist in einem bestimmten, hier nicht allgemein voraussetzbaren Verständnis der Mensch-Natur-Verhältnisse (individuelle und gesellschaftliche Naturverhältnisse, s. 4.1) redundant und dient hier nur einer verdeutlichenden Beschreibung. In 5.6 werde ich eine Modifikation der gesamten Liste der drei bzw. vier Grundfähigkeiten vorschlagen. Nach Einbezug des aktuellen und zukunftsorientierten Prinzips der Nachhaltigkeit (s. Kapitel 3) könnte auch von einem nachhaltigen Umgang mit der Natur gesprochen werden.

[86]     S. 2.7.2 und Becker (1986a, vor allem aus These 9) sowie Becker (1989b, S. 39ff).

[87]    Ähnliche Argumenten können auch aus der Sicht anderer umweltpädagogischer Ansätze, z. B. des Ökologischen Lernens(2.3.1) vorgetragen werden.

[88]     Die bisher geäußerte Kritik versteht sich als konstruktiver Beitrag zur Modifikation und Weiterentwicklung des Ansatzes von Klafki. Im Unterschied dazu stellt die Kritik von Giesecke (1997) den Ansatz Klafkis vollständig in Frage, weshalb mit dieser Kritik in 5.7 eine Auseinandersetzung stattfindet.

[89]     Dieser und weitere Beiträge des Sammelbandes von Heitkämper und Huschke-Rhein (1986) (s. 2.6), die offenbar im Kontext der AG Friedenspädagogik der DGfE entstanden sind, begründen angesichts der Überlebensbedrohung, die auf fragwürdig-diffuse Zeitdiagnosen („Entseelung“, „Machtergreifung der Technologien“ u. ä.) zurückgeführt wird, auf verschiedene Weise die Notwendigkeit einer neuen Allgemeinbildung, die „mit den alltäglichen, hautnahen Erziehungsproblemen unserer Zeit“ verbunden werden muß, keine neutrale Position einnehmen darf und zur Versöhnung von Mensch, Natur und Gesellschaft beitragen soll. Eine grundlegende Kritik an diesen und ähnlichen stark normativen und anthropologischen Ansätzen liefert Ciupke (1988, S. 59ff).

[90]     Auf die Rezeption des allgemeinen erziehungswissenschaftlichen Diskurses zu Systemtheorien, der auch in dieser Zeit stattfand (z. B. Oelkers/Tenorth 1987), soll über den speziellen Ansatz von Huschke-Rhein hinaus, hier verzichtet werden.

[91]     Diese drei Säulen entsprechen meiner eigenen Argumentation im letzten Abschnitt, der grundsätzliche Unterschied resultiert aber aus der in der weiteren Argumentation deutlich werdenden Natur-Dominanz in Gestalt ihrer absolut und real angenommen abstrakten Systemgesetze.

[92]     Konstruktivität der Erkenntnis (s. Kapitel 4): Die kulturalistische und erkenntniskritische Kritik an den ‚heimlichen‘ naturalistischen Grundlagen des Radikalen Konstruktivismus impliziert seine Blindheit gegenüber den eigenen Grundlagen. Es sei angemerkt, daß Huschke-Rhein im Kontext des pädagogischen Konstruktivismus als systemischer Konstruktivist in Erscheinung tritt, z. B. in Voß (1997 u. 1998).

[93]     Ausführlicher finden sich diese Gedanken im ersten Band seiner Systemischen Pädagogik (Husche-Rhein 1988), eine Kritik im nächsten Abschnitt von Becker E. (1986a, 1986b u. 1987). Ansonsten scheint der systemökologisch-pädagogische bzw. systempädagogische Ansatz in der pädagogischen Konstruktivismus-Debatte wieder als systemisch-konstruktivistischer Ansatz an Bedeutung zu gewinnen (s. Huschke-Rhein 1989).

[94]     Sie betreffen am Rande auch meine bildungstheoretischen Überlegungen von damals, die in 2.4 dargestellt wurden, vgl. die explizite Bemerkung in Becker, E. (1987, S. 15) und die dortige Fußnote 14.

[95]     Im Gefolge des Bonner Forums Mut zur Erziehung (1978) sollte den negativen Begleiterscheinungen der zunehmenden Verwissenschaftlichung und Pluralisierung der Gesellschaft entgegentreten werden. Da diese Positionen in keiner Weise zu den emanzipatorischen und kritischen Grundintentionen dieser Arbeit beitragen können und im übrigen kaum theoretisch formulierte Arbeiten hervorgebracht haben (vgl. Steinlechner 1992), werden sie hier nicht weiter verfolgt.

[96]     In bezug auf die Evangelische Kirche s. Goßmann 1985, auf die Gewerkschaften s. Klemm/ Rolff/Tillmann 1985 u. Schweitzer 1986, auf die SPD s. Ebert/Herter 1986; in bezug auf das Spektrum der Grünen und ihres Umfeldes aus den sozialen Bewegungen s. z. B. die Überlegungen zur Neuformulierung eines ethisch-normativen Bildungsbegriffs in Dick/Keese-Philips 1986 und 3.4.

[97]     Auf eine Fortentwicklung dieser Theorierichtung im Jahre 1995 wird in 2.7.3 eingegangen.

[98]     Der von Tenorth (1986) herausgegebene Band, der sich auf die Frage der Allgemeinbildung bezieht, hat lediglich in wenigen Einzelbeiträgen (z. B. der schon in 2.5.3 herangezogene Beitrag von E. Becker) einen emanzipatorischen oder kritischen Anspruch. Die Beiträge in Pleines (1987) sind Vorträge der AG Pädagogik und Philosophie der DGfE, die auf deren 10. Kongreß zum Thema Allgemeinbildung gehalten wurden. Sie beschäftigen sich mit dem Problem des Allgemeinen und der Vernunft auf einem Abstraktionsniveau, das für die umweltbezogene Fragestellung in diesem Kapitel weitgehend unergiebig ist. An dieser Stelle sei auch der praxeologische Ansatz von Benner (1987)zu nennen, der Bildung als „nicht-affirmative“ im Rahmen seiner Allgemeinen Pädagogik auf sehr abstrakt-theoretischen Niveau definiert, ohne konkret auf historische Problemsituationen einzugehen. Auf Klafkis bildungstheoretischen Ansatz (1985a) wurde bereits in 2.1 eingegangen. Er unterscheidet sich jedoch in einigen grundlegenden Aspekten von den anderen theoretischen Ansätzen und Orientierungen in 2.6.2 - 2.6.4 und steht in seinen Konsequenzen damaligen und aktuellen Bildungsreformbestrebungen nahe.

[99]     Systematische Aneignung geht von den Problemen der gegenwärtigen Gesellschaft aus, um die gesellschaftlichen Bedingungen der Ermöglichung und Behinderung von Bildung zu studieren, Widersprüche zu entdecken u. ä. – dies macht ihre kritische, emanzipatorische Ausrichtung aus. Problemgeschichtliche Aneignung als diachrone Dimension einer Theorie behandelt ihre zeitliche Genese. Einerseits erfolgt Aufklärung der Problemgeschichte durch Rückfragen von einer gegenwärtigen Position aus, andererseits ist Problemgeschichte immer (Selbst)Besinnung, d. h. aus der Geschichte wird versucht, die gegenwärtige Problemlage zu verstehen. Aus diesem dialektischen Ansatz wurden Anregungen für die Rekonstruktionsarbeit in diesem Kapitel gezogen (s. Einleitung dieses Kapitels).

[100]   Z. B. Peukert (1987, 1988a, 1988b, 1992). Auf die zahlreichen und sehr unterschiedlichen Beiträge einer Kritischen Bildungstheorie, die sich auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule stützen, kann hier nicht eingegangen werden. Insbesondere ist zwischen den Arbeiten von Adorno, Peukert, Gamm und Heydorn auf der einen Seite und denjenigen Erziehungswissenschaftlern bzw. Bildungstheoretikern auf der anderen Seite unterschieden, die sich eher auf die Grundlagen von Habermas beziehen, zu denen m. E. auch Klafki gehört.

[101]   Die vermutlich bestehende Unmöglichkeit einer umfassenden, nicht notwendig einheitlichen Bildungstheorie hat auch wissenschaftsinstitutionelle Gründe, die das Selbstverständnis von forschenden Individuen als zentrales Dogma einschließen. Das anspruchsvoll geplante Projekt wird in einer Rezension von Thumm (in der Zeitschrift für Entwicklungspädagogik (ZEP), H. 1 (1989), S. 38f) wie folgt zusammenfassend etwas zu negativ kommentiert: „Originäre Akzente, die über das Bildungsdenken der Vergangenheit hinausführen, sind kaum zu entdecken ... leider findet keine systematische Rekonstruktion der sehr unterschiedlichen Bildungssemantik statt.“

[102]   Die grundsätzliche Position von Preuss-Lausitz wurde bereits in 2.3.4 dargestellt.

[103]   Beispiele: Dauber, der in 2.3.1 als Vertreter eines Ökologischen Lernens vorgestellt wurde, tritt für Ganzheitserfahrungen ein. Schmied-Kowarzik fordert eine Revolutionierung der zerstörerischen Praxis zum Sittlichen, die seiner Auffassung nach nur durch bzw. als Bildung und politische Praxis geschehen kann. Krause-Vilmar begreift Bildung auch und vor allem als Wiedergewinnen jener Freiheit und Kultur der Ich-Stärke, die notwendig sind, um an der Gestaltung einer menschlichen Zukunft überhaupt mitwirken zu können.

[104]   Eine frühe Auseinandersetzungen mit postmodernen Behauptungen des Endes der Pädagogik leisten Benner und Göstemeyer (1987), die darin eine „Affirmation der Dialektik der Aufklärung“ vermuten. Die breite begriffsgeschichtliche Ausfächerung des Begriffs der Moderne von Helmer (1993) in einem Band (Koch/Marotzki/Peukert 1993), der sich um eine Annäherung zwischen Philosophie und Pädagogik in der Frage einer möglichen Revision der Moderne bemüht, zeigt die Schwierigkeit des Begriffes Postmoderne. Ähnliches gilt für Hug (1996): „Eine griffige Charakterisierung postmoderner Erziehungswissenschaft erscheint gegenwärtig vor allem aus Gründen der unterschiedlichen Problembeschreibung, der Heterogenität möglicher Aufgaben und methodischer Zugänge sowie der Aktualität und der zunehmenden Häufigkeit des Stichwortes unmöglich und unumgänglich zugleich.[...] Als wichtige Merkmale und Anhaltspunkte postmoderner Erziehungswissenschaft lassen sich insbesondere das Votum für Offenheit, Beweglichkeit und Ästhetisierung im Denken, die Kritik eingespielter Denkgewohnheiten der Moderne, die Wendung gegen jegliche Art von Monopolansprüchen, die flexible Wahl der Bezugsrahmen und Leitvorstellungen, der regionale Charakter der Bemühungen und eine gewisse Bescheidenheit in den Ansprüchen, die Neugewichtung von Differenz und Dissens und der Stellenwert sensitiver und kontextorientierter Vorgangsweisen sowie diskursanalytischer und (de)konstruktivistischer Methoden beschreiben“ (Hug 1996). Welsch (1987) rekonstruiert die Geschichte des Begriffs Postmoderne und bezieht sich dabei auf entsprechende Phänomene in der Philosophie, Soziologie, Literatur, Architektur und in anderen Künsten. Auf seine Position wird am Ende dieses Abschnitts nochmals eingegangen.

[105]   Zu dem theoretischen Öko-Diskurs sind in den 80er Jahren in Deutschland weit über hundert Bücher erschienen.

[106]   Auf die Position Lyotards wird weiter unten in diesem Abschnitt in der Rezeption von Marotzki (1992) eingegangen.

[107]   Auch de Haan verwendet in seinem, fast alle Vertreter der Umweltbildung provozierenden Aufsatz von 1993 dieses Vokabular, um einige Postulate der Umweltbildung in Frage zu stellen, z. B. die „Erzählung von der Notwendigkeit der Umweltbildung aufgrund des gefährdeten Überlebens der Menschheit“ (de Haan 1993, S. 119).

[108]   Vgl. z. B. Beck/Giddens/Lash (1996).Die verschiedenen Varianten von Theorien der reflexiven Moderne, die sich wiederum von den radikalen Postmodernismus-Vorstellungen abgrenzen, haben im Kontext dieser Arbeit unter anderem den Vorteil, die ökologische Frage als Kernbereich ihrer Ansätze aufgenommen zu haben. Eine umfassende Rezeption in den Erziehungswissenschaften und der Umweltbildung steht noch aus. Im Kontext des Nachhaltigkeitsdiskurses wird in 3.2.6 (Partizipation), 3.4.1 (Stadtentwicklung und Urbanität) und 5.4 (Bildung für nachhaltige Entwicklung) nochmals auf Ansätze reflexiver Modernisierung zurückgegriffen.

[109]   Da auch Lyotard selbst die Postmoderne nicht als das Ende der Moderne sieht, eignet sich seine selektive (postmoderne Form der) Rezeption für eine Aktualisierung der Moderne.

[110]   Vgl. den Konstruktivismus-Diskurs in Kapitel 4.

[111]   Marotzki nennt dieses Modell in Anlehnung an Adorno „Konstellation“ und stellt es dem „Holismus“ gegenüber, für den die konträren Kategorien wie Einheit/Ganzheit, Kontinuität, Universalität charakteristisch sind. Damit sind auch Gefahren wie Atomismus, Relativität und Orientierungslosigkeit verbunden, mit denen produktiv umgegangen werden muß (Marotzki 1992, S. 210-212).

[112]   Diese Neubestimmung des Postmodernismus erfolgt vor dem Hintergrund, daß Welsch den diffusen und z. T. oberflächlichen Charakter sowie die Beliebigkeit der langjährigen Debatte des Postmodernismus kritisiert, dessen Begriff Welsch eigentlich als „mißverständlich“, „unglücklich“ und „verzichtbar“ hält, weil er suggeriert, daß die Moderne vorbei sei und Antimodernes künftig die Tagesordnung bestimmen werde. Der Postmodernismus transformiert durch seine Provokationen die Moderne (Welsch 1987, S. 319).

[113]   „Im Zeitalter des Flugverkehrs und der Telekommunikation wurde Heterogenes so abstandslos, daß es allenthalben aufeinandertrifft und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur neuen Natur wurde. Real ist die Gesamtsituation der Simultanität und Interpenetration differenter Konzepte und Ansprüche entstanden. Auf deren Grundanforderungen und Probleme sucht der postmoderne Pluralismus zu antworten. Er erfindet diese Situation nicht, sondern reflektiert sie. Er schaut nicht weg, sondern sucht sich der Zeit und ihren Herausforderungen zu stellen ... Die Postmoderne ist diejenige geschichtliche Phase, in der die radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaft real und anerkannt und in der daher plurale Sinn- und Aktionsmuster vordringlich, ja dominant und obligat werden. Diese Pluralisierung wäre, als bloßer Auflösungsvorgang gedeutet, gründlich verkannt. Sie stellt eine zuinnerst positive Vision dar. Sie ist von wirklicher Demokratie untrennbar“ (Welsch 1987, S. 4f).

[114]   In dem Sinne einer konsequenten Fortentwicklung pluralistischer Tendenzen innerhalb der Moderne ist der Begriff radikale Pluralität verständlich. Bezogen auf einen Pluralismus-Diskurs (s. 2.6.4), der eine (absolut) relativistische Position meistens als radikal bezeichnet, ist dieser Begriff von Welsch, der einen anderen Bezug hat, jedoch irreführend.

[115]   Die zunehmende faktische Multikulturalität unserer Gesellschaft hat in jüngster Zeit zur verstärkten grundsätzlichen Thematisierung eines pluralistischen Bildungsverständnis geführt, s. hierzu Gogolin/Potratz u. a 1998 in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (1999, H. 2). Darauf wird in 5.2.2 kurz eingegangen.

[116]   Das plurale Geltenlassen verschiedener Möglichkeiten kann pragmatisch notwendig oder sinnvoll sein, wenn es keine eindeutigen Entscheidungskriterien gibt oder sie in einer Handlungs‑ oder pädagogischen Situation faktisch nicht zur Verfügung stehen, etwa aufgrund von Wissensdefiziten oder fehlender Prognostizierbarkeit von Entwicklungen. Diese Problemlage ist für ökologische Problemsituationen oder anderen Erscheinungen der Risikogesellschaft geradezu typisch und ein Stück weit von soziokulturellen Kontexten und persönlichen Einstellungen unabhängig.

         Als Kritik an theoretischem Monismus und Dogmatismus und als Verteidigung von Vielfalt hat der Pluralismus in Philosophie und Erkenntnistheorie schon eine sehr viel längere Tradition, z. B. Kritischer Rationalismus (Popper) und die „Theorie der offenen Gesellschaft“ sowie Paul Feyerabends Erkenntnistheorie „Anything goes“ als „Erkenntnis für freie Menschen“ (vgl. Heyting/Tenorth 1994, S. 5ff). Pluralismus und Dogmatismus müssen sich nicht unbedingt widersprechen (vgl. Heid 1994b, S. 125).

[117]   Dennoch erfordert das Erkennen von Pluralität auch die Vorstellung einer Einheit des betreffenden, diversifizierten Bereichs, dem auf einer höheren Abstraktionsebene auch Gemeinsamkeiten zugemessen werden müssen. Eine Beispiel ist die vieldiskutierte Pluralität der Lebensstile, für die es nicht nur allgemeine Begriffsdefinitionen gibt, sondern auch gesellschaftliche Gemeinsamkeiten, zumindest im Sinne von jeweils gesellschaftlich dominierenden Lebensweisen (vgl. Reusswig 1994). Hier zeigen sich Zusammenhänge zur erkenntnistheoretischen Vorstellung von der Konstruktivität der Wirklichkeit und zum Konstruktivismus, der in Kapitel 4 ausführlich behandelt wird.

[118]   Tenorth unterscheidet drei Arten, wie Einheit hergestellt werden kann: a) Pädagogik als Weltanschauung, b) Pädagogik als Berufsweisheit, c) Pädagogik als Wissenschaft. Eine weitergehende Frage ist, ob es auch eine in diesem Sinne pluralistische Wissenschaft gibt, ob es also nebeneinander verschiedene Rationalitätsvorstellungen gibt oder geben kann. Von wissenschaftlich schlüssigen Argumentationen könnte dann mehr nicht angenommen werden, daß sie in anderen sozialen Kontexten eine zwingende oder überzeugende Kraft besitzen. Im Falle eines wissenschaftsinternen und Wahrheitspluralismus befürchtet F. Heyting (1994, S. 101-103) die Gefährdung der Praxisrelevanz von Wissenschaft.

[119]   Besonders spät erfolgte sie in Deutschland, wo ein stark ausgeprägtes Einheitsdenken vorherrschte. Dies hat wohl mit der deutschen Geschichte und der gesellschaftlichen Funktion von Bildung darin zu tun und wurde auch nicht durch die Existenz konkurrierender Ansätze in Frage gestellt (vgl. Heyting/Tenorth 1994, S. 15ff).

[120]   Dem pädagogischen Pluralismus wird vor allem vorgeworfen: Förderung verantwortungsloser Gleichgültigkeit, Widerspruch zu Sicherheits- und Orientierungsbedürfnissen (besonders bei Kindern), Förderung bzw. Verschärfung der ohnehin bestehenden „Unübersichtlichkeit“, Fehlen allgemeiner übergreifender Geltungen und Kriterien, Widerspruch zum Wahrheitsanspruch, Gefahr von Solipsismus, Provinzialisierung des Denkens (Rang 1994).

[121]   Nach Haaften/Snik (1994) wäre eine „Entprovinzialisierung“ des Denkens im Sinne von Adorno, die für einen kritischen Bildungsbegriff konstitutiv ist, nicht möglich.

[122]   Die relativistischen Positionen des Pluralismus werden in diesem Band z. T. auch „radikal-pluralistisch“ genannt. Die „radikale Pluralität“ von Welsch (1987, s. 2.6.3) ist in diesem Sinne jedoch gemäßigt (vgl. Fußnote 116).

[123]   Für Rang (1994, S. 35ff) ist eine solche interpretativ‑konstruktivistische Wendung der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Lernprozessen. Diese finden selbst in ihren individualisierenden Formen ihre Grenze in den korrespondenztheoretischen (abbildtheoretischen) Vorstellungen, die weithin im Denken der Menschen und den Bildungsinstitutionen herrschen. Nach diesen Vorstellungen handelt es sich immer um schrittweise Annäherungen an objektive Wahrheiten der äußeren Realität und die Entdeckung der Wahrheit.

[124]   Dies gilt pädagogisch prinzipiell für alle Entwicklungsstadien – alters-, situations- und gegenstands- und adressatenspezifisch in unterschiedlicher Akzentuierung.

[125]   F. Heyting, die die Bedeutung eines relativistischen bzw.„sozialkommunikativen“ Pluralismus für die Erziehungswissenschaft und pädagogische Praxis anerkennt, sieht aber die negative Konsequenz darin, daß man dann nicht mehr spezifisch wissenschaftliche Aussagearten und Urteilsformen definieren und abgrenzen kann (Heyting, F. 1994, S. 105f). Heyting entwickelt daher die darüberhinausgehende Vorstellung eines „konzeptuell-konstruktivistischen Pluralismus“ (er wird in einem erkenntnistheoretischen Kontext auch in 4.9 vorgestellt.), dem es nicht mehr um subjektive oder soziale Entwicklungs-, sondern um logisch-argumentative Zusammenhänge geht. Ein konzeptuell-konstruktivistischer Pluralist geht von der Möglichkeit aus, dasselbe Geschehen auf der Basis unterschiedlicher, nicht aufeinander rückführbarer konzeptueller Ausgangspunkte zu beschreiben.

[126]   Vgl. auch Haaften/Snik (1994, S. 68f). Eine solche inhaltliche Thematisierung des ‚Relativismus‘, der auch schon für das Merkmal b) zutrifft, ist nach Rang (1994, S. 42ff) ein wichtiger Beitrag zur Überbrückung der ‚materialen‘ und ‚formalen‘ Seite von Bildung. Die zunehmende einseitige Akzentuierung ‚formaler‘ Bildung, besonders auch in der Reformpädagogik (gilt nicht für Dewey) interpretiert Rang als eine unreflektierte Reaktion auf Diversität und den sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert ausbreitenden soziokulturellen Relativismus. Die vorfindlichen Begründungen mit bildungs- und/oder lerntheoretischen, mit anthropologischen und manchmal auch mit politischen Argumenten (‚Bildsamkeit‘, ‚Selbsttätigkeit‘ und ‚Autonomie‘) nennt Rang dagegen eine Selbsttäuschung.

[127]   Es wird hier nicht der Vermutung nachgegangen, daß die Gliederung der Bereiche des Denkens und Urteilens überholt ist.

[128]   Ansätze einer gestuften Entwicklungs- und Bildungsvorstellung können hier nicht weiter verfolgt werden, vgl. z. B. die Arbeiten zur moralischen Entwicklung (Oser/Althof/Garz 1986) und zur sozialökologische Ethik (Becker 1989a).

[129]   Man könnte zusätzlich verschiedene Stufen der Entfaltung der Bereiche und Dimensionen vornehmen.

[130]   Solzbacher (1990b, S. 397f) betont daher („Wie pluralismusfähig ist der Mensch?“) im Kontext der politischen Bildung die Notwendigkeit eines Grundkonsenses von gemeinsamen Werten und Positionen als Kern eines reorganisierten Pluralismus. Dieser Kern soll unterschiedlich begründet werden können, wodurch „wieder ein plurales Element in der Substanz entsteht.“ Vom Kern sollen mehrere Abweichungen möglich sein. In diesem Sinne ist politische Bildung zwar neutral, aber nicht wertneutral bezogen auf den Grundkonsens. Solzbachers Position eines Pluralismus richtet sich gegen hedonistische und relativistische Vorstellungen von Pluralismus sowie generell gegen Vorstellungen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.

[131]   Prengel bezieht sich dabei unter anderem auf die Grundidee des grün-alternativen Bildungsbegriffs von Preuss-Lausitz (1988a), der in 2.3.4 vorgestellt wurde. Diese Grundintention von Prengel stimmt weitgehend mit meiner eigenen, sich auf den Umweltbildungsbereich beziehenden Intention überein (s. Einleitung zu diesem Kapitel).

[132]   Vgl. die Lichtmetapher von Welsch, die darin besteht, „daß ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger ‚Licht‘ besitzt als die erstere – nur ein anderes. Licht, so erfährt man dabei, ist immer Eigenlicht. Das alte Sonnenmodell – die eine Sonne für alles und über allem – gilt nicht mehr, es hat sich als unzutreffend erwiesen“ (Welsch 1987, S. 5).

[133]   Differenz ohne Gleichheit bedeutet gesellschaftlich Hierarchie, kulturell Entwertung, ökonomisch Ausbeutung. Gleichheit ohne Differenz bedeutet Assimilation, Anpassung, Gleichschaltung, Ausgrenzung von ‚Anderen‘.