Vera Lange, Ute Vergin: Der Schinkel: Frei-/Brachflächen und Stadt(teil)erweiterung, Osnabrück 1995

Dokumente und Materialien zur Osnabrücker Stadtökologie, Bd. 2

Vorwort

Gerhard Becker

- anläßlich der Lehrerfortbildungsveranstaltung "Stadtökologische Lernorte. Frei-{Brachflächen in der Stadt Osnabrück" am 15./16.5.1995

Lebensqualität „die umwelt- und gesundheitsverträgliche Gestaltung des unmittelbaren menschlichen Lebensraumes, steht im Mittelpunkt 1...1. In diesem Themenbereich kann verdeutlicht werden, daß es beim Umweltschutz wesentlich auch um die verant­wortliche und aktive Mitgestaltung der eigenen unmittelbaren Lebenswelt Wau., und Garten Schule, Stadtteil und Gemeinde) geht. Möglich sind die konstruktive Beteiligung an kommunalen Planungen, die Entwicklung eigener Modellplanungen - z.B. zugleich phantasievolle und realistische Modelle einer Stadt der Zukunft-, die planerische Umgestaltung des eigenen Umfeldes und zum z.T auch die Realisierung beispielhafter Maßnahmen und Verhaltensweisen: Verwendung umweltfreundlicher Verkehrsmittel, zugleich ökologische. ästhetische und bedürfnisgerechte Gestaltung von nnen- und Außenräumen ökologisches Bauen usw.- Diese und ähnliche, zum lokalen Thema „Stadtteilerweiterung Schinkel-Ost- passende Aussagen sind in den „Empfehlungen zur Umweltbildung in allgemeinbildenden Schulen' des nds. Kultusministeriums in dem Abschnitt zum Themenbereich „Siedlung und Ver­kehr" (S.34 35) nachzulesen. Insgesamt werden 13 solcher fächerübergreifender Themenbereiche vorschlagen, die für das gesamte Schulwesen gelten und als ökologi­sche .Schwerpunktsetzungen bisheriger Themenbereiche und Inhalte der Rahmenricht­linien" in den regulären Unterricht integriert werden sollen und können (S 18).

So leicht, wie es hier nahegelegt wird, ist es jedoch in der schulischen Praxis leider nicht. Dort fehlen in der Regel fast alle inhaltlichen Voraussetzungen, die mit großem Arbeits­aufwand von besonders engagierten Lehrerinnen geschaffen werden müßten. Das in solchen Mitgestaltungsansprüchen formulierte Ziel, mit pädagogischer Arbeit reale Ver­änderungen und Verbesserungen der außerschulischen Wirklichkeit und damit verknüpft eine erfahrungsbezogene Bildung der Schülerinnen und Lehrerinnen zu erreichen, ist der klassische Anwendungsfall des Projektgedankens als Unterrichtsmethode und -form Seiner praktischen Umsetzung stehen jedoch in den Schulen bekanntlich zahlreiche strukturelle Hindernisse entgegen, die eine grundlegende Reform erfordern.

Eine Probe aufs Exempel und zugleich eine große, ja einmalige umweltpädagogische Chance, ja eine Chance für die bildungspolitische aktuelle Forderung einer ,.Öffnung der Schule" bietet sich im Stadtteil Schinkel für die dortigen Schulen, insbesondere für die große Gesamtschule: die Stadt Osnabrück plant dort seit kurzem auf bislang unbebauten, landwirtschaftlichen Flächen einen neuen Stadtteil für etwa 6000 Bewohner. Damit wird nicht nur das räumliche und soziale Umfeld der bislang im Schinkel und angrenzenden Stadtteilen wohnenden Bürger einschneidend verändert, sondern auch das der Schulen und Schülerinnen. Angesichts der tiefen Krise der Städte ist eine moderne, ökologisch orientierte Stadt­planung absolute Überlebensnotwendigkeit und ein anspruchsvolles, komplexes Unter­fangen Die Stadt Osnabrück scheint diese städtebauliche Herausforderung erkannt zu haben und bemüht sich um zukunftsorientierte und modellhafte Lösungen (s. den Erläuterungsbericht zum städtebaulichen Rahmenkonzept im Anhang dieses Materialienbandes).

Allerdings reicht es nicht, im Sinne moderner Vorstellungen von Stadtplanung, Ressort- und Fachgrenzen zu zu neuen konstruktiven Lösungen zu kommen. Im Zentrum der Stadtentwicklung muß die Partizipation der Bür­gerinnen stehen, es muß jedoch auch die nachwachsende Generation mit einbezogen werden Kompetente Mitsprache erfordert die Kenntnis von Zusammenhängen, Hintergründen und Ursachen sowie der Fähigkeit der interpretierenden Wahrnehmung von Umweltproblemen in der eigenen Alltags- und Lebenswelt Solche Voraussetzungen sind in großen Teilen der Bevölkerung noch kaum vorhanden, ebenso selten gibt es Angebote. dies zu lernen Partizipation ist allerdings nicht nur ein demokratischer Anspruch sondern auch eine sachliche Notwendigkeit, denn neue formen städtischen Lebens, die in den Planungen vorausgesetzt werden, können ohne entsprechendes Bewußtsein und Verhaltensdispositionen nicht funktionieren - man denke etwa an den Verkehrsbereich. Städtische Umweltbildung, allgemeiner „Bildung für eine ökologische Urbanität“ (1)- müßte in diesem Sinne unverzichtbarer Bestandteil von Stadtentwicklungsplanung sein (2), sie könnte einen wesentlichen mittel- und langfristig wirkenden Beitrag zur städtischen Umwelt- und Daseinsvorsorge leisten. Leider wurde dieses Potential in der Kommunalpolitik noch kaum entdeckt, ja es scheint angesichts der Finanzkrise der Kommunen kaum eine Chance zu bestehen, daß es auch ernsthaft genutzt wird.(3)

Freilich möchte ich an dieser Stelle aus pädagogischer Sicht davor warnen, die Lern­prozesse der Schülerinnen einseitig instrumentalisieren zu wollen, sei es für Ziel­setzungen der Stadtplanung (und seien sie noch so wichtig und begründet), sei es für institutionelle Interessen der jeweiligen Schule, sei es im Sinne politischer Ambitionen von engagierten Lehrerinnen, sie es im Sinne der Erhaltung des herrschenden Zustandes durch Verzicht oder Ignoranz gegenüber aktuellen Themen. Der vielfach beklagten Sinnkrise der Schülerinnen kann man nur dadurch entgegentreten, daß man ihre Interessen und Bedürfnisse wirklich ernst nimmt.

Die offensichtlichen Defizite und Probleme lokaler städtischer Umweltbildung stellen für die Projektgruppe NUSO (=Natur und Umwelt in der Stadt Osnabrück) und den sie in Kooperation mit der Universität tragenden gemeinnützigen „Verein für Ökologie und Umweltbildung Osnabrück eAl " seit einigen Jahren den Hauptansatzpunkt der eigenen Arbeit dar. Wir leisten vor allem Grundlagenarbeit und wollen in kooperativer Form Bei­träge zu einem ökologischen und urbanen Bewußtsein in der Stadt Osnabrück leisten. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, denen wir für Umweltbildung zu wichtigen lokalen und regionalen Themen vielfältige Unterstützung anbieten. Dies soll u.a. durch die Reihe „Dokumente und Materialien zur Osnabrücker Stadtökologie" geschehen, die zunächst als Hintergrundmaterial zum Selbststudium der Lehrerinnen dient. In Kooperation mit interessierten Schulen und Leh­rerinnen sollen daraus „didaktische Materialien- und schließlich konkrete Unterrichts­materialien entwickelt und erprobt werden.

Mit diesem Band 2, der zur Lehrerfortbildungsveranstaltung vorgelegt wird, setzen wir eine bereits vor Jahren begonnene und bewährte Arbeit fort: 1991 erschien unser 300seitiges Buch „Stadtentwicklung im gesellschaftlichen Konfliktfeld Naturgeschichte von Osnabrück", in dem NUSO sich umweltgeschichtlich mit dem Wallring, der Hase, dem Westerberg und anderen Themen beschäftigte Im Februar dieses Jahres erschien in einer ersten Auflage der Band 1 dieser neuen Reihe (Günter Terhalle, Ute Vergin: Sch. , Müll, Altlasten und was damit zu tun hat), der sich auf die Osnabrücker Müllgeschichte und auf die aktuelle Altlastenproblematik im Stadtteil Wüste bezog. Weitere Bände sind geplant sowie eine Erweiterung und grundlegendere Überarbeitung der jeweiligen ersten Auflagen

Die Planung eines vollständig neuen Stadtteils im Schinkel berührt selbstverständlich sämtliche Bereiche moderner, ökologisch orientierter Stadtplanung: Landschaftsgestal­tung, Klima, Verkehr, Wasserhaushalt. Müll, Energiegewinnung und -nutzung, Gewerbe­gebiete. .. Mit dem vorliegenden Band und einem großen Teil der Fortbildungsveran­staltung haben wir uns für den Schwerpunkt ..Frei- und Brachfächen" entschieden. der vor allem drei Vorteile bietet:

  • Städtische Frei- und Brachfächen sind nicht nur von stadtökologischer hoher Bedeu­tung. Nur ein zukunftsträchtiges Modell innerstädtischen Natur und städtischer Natur­beziehung, sondern bieten hervorragende Möglichkeiten für die Entfaltung (Wiedergewinnung?) der Freiheit der Kinder und Jugendlichen sowie für umweltpäd­agogische Arbeit.
  • Es wird ein handhabbarer Einstieg in das Thema Stadtteilerweiterung geboten. Dabei ist nicht nur an den neuen Stadtteil zu denken_ sondern an die neue Planung für das ehemalige Klöckner-Gelände, die ebenfalls einer Stadtteilerweiterungen gleichkommen und bereits jetzt viel Studienmaterial liefern.
  • Sehr naheliegend ist hier die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der Verknüpfung mit der bisherigen Geschichte des Stadtteils und der Stadt insgesamt, ist doch dieser Stadtteil in seiner heutigen Gestalt doch in mehreren Schüben durch Umnutzung von Freiräu­men entstanden.

Ute Vergin hat unter dem letzten Aspekt eine umweltgeschichtliche Rekonstruktion der Geschichte des Schinkels vorgenommen und auf über 60 Seiten dabei mehrere spe­zifische Entwicklungsphasen herausgearbeitet. Ihr Beitrag bietet eine wesentliche Grund­lage. genügend Einzelanlässe. Ansatzpunkte sowie außerschulische Lernorte, um den Schinkel genauer zu erkunden, zu verstehen und ggf zu verändern ...

Im Anhang findet sich der Text des Eingemeindungsvertrages der Stadt Osnabrück mit der damaligen Landgemeinde Schinkel aus dem Jahre 1913 (s. 61 ff). Außerdem sind noch einige Kopien von Originalzeitungsartikeln abgedruckt, die aus der ganzen Geschichte bis hin zur aktuellen Stadtteilerweiterung reichen. Sie sollen hier vor allem exemplarisch zeigen, was im NUSO-Archiv zu finden ist. Bei Bedarf sind nutzbare Kopien bei uns erhältlich lm übrigen wurden neben themenbezogener Literatur für diesen Beitrag. 1.200 Zeitungsartikel ausgewertet.

Die historische Dimension der städtischen Umwelt und Natur halten wir deshalb wichtig, weil ohne sie aktuelle Umweltprobleme weder zu verstehen sind. noch einer angemes­senen Lösung zuzuführen sind. die der spezifischen lokalen Situation und den Interessen und Wünschen der betroffenen Bürger gerecht wird. Sie ist für die allgemeine Bewußt­seinsentwicklung deshalb wichtig, weil die Stadtentwicklung und die mit ihr einhergehenden, zum Teil gravierenden Veränderungen einem schnellen Prozeß des Vergessens in der Öffentlichkeit unterliegen, soweit sie überhaupt je bewußt vom einzelnen Bürger mit­vollzogen wurden Für Schülerinnen dürfte eine umwelthistorische Spurensuche in jedem Fall neue Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse erbringen Deshalb stellte die systematische umwelthistorische Recherche den Schwerpunkt der Arbeit von NLSO in den letzten Jahren dar, was sich in einem derzeit fast 12.000 Dokumente umfassenden Lokalarchiv und einer dazugehörigen Datenbank niedergeschlagen hat.

Materialien Zusätzlich in den Materialband aufgenommen wurden vor allem zwei hexte bzw. Dokumente. die von Vera Lange besorgt und erstellt bzw. freundlicherweise uns vom Stadtplanungsamt zur Verfügung gestellt wurden:

  • Transkript des Kommentars des Videofilmes Das Wetter ist Menschenwerk - Stadtklimatologie, eine neue Wissenschaft- der zu Beginn der Veranstaltung gezeigt wird
  • „Erläuterungsbericht" des städtebaulichen Rahmenkonzepts zur Vorbereitung einer städtebaulichen Entwicklungs-Maßnahme in Osnabrück Schinkel-Ost/Gretesch‑

Für die Teilnehmerinnen der Lehrerfortbildungsveranstaltung wird dieser Band in näch­ster Zeit noch durch weitere Texte und Dokumente. vor allem zum Thema Frei- und Brachflächen ergänzt (Vera Lange) Darüberhinausgehende Erweiterungen, auch in didaktischer Hinsicht, können mit den Teilnehmerinnen abgesprochen werden.

An dieser Stelle möchte ich abschließend eine Bemerkung zur weiteren Arbeit von NUSO und zu unserem Kooperationsangebot machen: Der stadtökologisch - im weite­sten Sinne verstanden — ausgerichtete Ansatz der Arbeit von NUSO hat inzwischen modellartige Bedeutung weit über Osnabrück hinaus gewonnen. weshalb wir zur Zeit Unterstützung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt im Sinne eines auf etwa ein Jahr befristeten Pilotprojektes und einer Anschubfinanzierung erhalten. Zusammen mit den mit uns kooperierenden Schulen, Gruppen und anderen umweltpädagogisch relevan­ten Einrichtungen bieten sich danach große Chancen der Entfaltung eines Reforman­satzes. der u.0 über mehrere Jahre gefördert werden könnte. Im übrigen ist die mit einer auf den Stadtteil bezogenen Projektarbeit einhergehende .,Öffnung' der Schulen von hoher bildungspolitischer Aktualität, die insbesondere vom Nds. Kultusministerium geför­dert wird.

(1) Becker, Gerhard: Sinnliche Naturwahrnehmung. Pädagogik und ökologische Urbanität. In: Zacharias. Wolfgang (Hrsg): Sinnenreich. Vom Sinn einer Bildung der Sinne als kulturell-ästhetisches Projekt. Klartext-Vertag (Edition Umbruch) 1994. S. 23S-24

(2) Vgl. z.B. die Ausgabe 193 der didaktischen Zeitschrift Unterricht Biologie (April 94), die das Thema Stadterkundung – Stadtplanung“ hat

(3) s. Becker, Gerhard: Öffnung der Schule zur städtischen Umwelt als Aufgabe kommunaler Bildungspolitik und regionaler Vernetzung. In: Carle, Ursula (Hg.) Gesunde Schule Osnabrück 1995 (in Druck)

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