Globales Lernen (4)

Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland

"Eine Welt/Dritte Welt" in Unterricht und Schule

Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 28.02.1997

i.d. Fassung vom 20.03.1998

Inhalt

1. Vorbemerkungen zur Einordnung der Empfehlung 2 Orientierungsrahmen für schulrechtliche Regelungen der Länder 3. Eine Welt/Dritte Welt" 4. Ziele und Grundsätze 4.1 Aufgaben und Ziele des Unterrichts über die "Eine Welt/Dritte Welt" 4.2 Pädagogische Grundsätze 4.3 Altersgerechter Aufbau des Themenbereichs 5. Themenschwerpunkt und Organisation des fächerverbindenden Unterrichts 5.1 Themenschwerpunkte 5.2 Organisation des fächerverbindenden Unterrichts 6. Materialien für Lehrkräfte 7. Lehreraus- und –fortbildung

1. Vorbemerkungen zur Einordnung der Empfehlung

Seit dem Bericht der Kultusministerkonferenz von 1988 zur "Situation des Unterrichts über die Dritte Welt" ist in verschiedenen Ländern der an der Eigenproblematik der Entwicklungsländer ausgerichtete Unterricht über die "Dritte Welt" auf die globalen Herausforderungen der "Einen Welt" ausgeweitet worden. Angesichts dieser Herausforderungen wird dringender Handlungsbedarf auch bei den Industrieländern gesehen.

Die Empfehlung versucht, die Schnittmenge dieser Aspekte in einem gemeinsamen Rahmenkonzept zu integrieren. Im Abschnitt 3 wird das Konzept "Eine Welt/Dritte Welt" sachlich umrissen, während in den folgenden Abschnitten seine schulische Behandlung erörtert wird.

Die Erfahrungen und Materialien der Länder wurden in das Gesamtkonzept der Empfehlung einbezogen. Wegen der unterschiedlichen Situation in den einzelnen Ländern der Bundesrepublik Deutschland wird auf eine gesonderte Ausweisung von Länderberichten verzichtet.

Die Empfehlung soll die Weiterentwicklung dieses Themenbereichs in den Ländern fördern und Orientierungshilfe sein für die Lehrplanentwicklung, die Lehreraus- und -fortbildung, die entsprechenden Hochschulinstitute und die schulpädagogischen Landesinstitute, die Schulbuchverlage, die Hersteller audiovisueller Medien und die interessierte Öffentlichkeit. Sie wendet sich aber auch an die Stellen und Organisationen des Entwicklungsbereichs, mit denen der Dialog weiter ausgebaut werden soll, und an alle, die sich in diesem Bereich engagieren.

2. Orientierungsrahmen für schulrechtliche Regelungen der Länder

Nach den Schulgesetzen der Länder hat das Schulwesen die Aufgabe, junge Menschen im Sinne der Wert- und Ordnungsvorstellungen des Grundgesetzes und der jeweiligen Länderverfassungen zu unterrichten und zu erziehen. Wesentliche Ziele der Schule sind dabei die Vermittlung von Wissen und Kenntnissen, die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Erziehung zur Aufgeschlossenheit für Kultur und Wissenschaft sowie die Achtung vor den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer.

In diesem Zusammenhang sollen die Schülerinnen und Schüler die Bedeutung von Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz gegenüber anderen Kulturen für die Völkerverständigung und Friedensfähigkeit erkennen.

Gleichzeitig soll bei den Schülerinnen und Schülern die Bereitschaft geweckt werden, an der Erhaltung der Lebensgrundlagen für Mensch und Umwelt mitzuwirken. In dieser Hinsicht wird auch auf den Bericht der Kultusministerkonferenz zur schulischen Umwelterziehung in Deutschland vom 08./09.10.92 und die Empfehlung "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule" vom 25.10.1996 verwiesen.

3. "Eine Welt/Dritte Welt"

Die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen und die Bewahrung der Umwelt in allen Ländern dieser Welt sind zentrale Herausforderungen bis in das neue Jahrtausend hinein. Die "Erklärung zu Umwelt und Entwicklung" der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, UNCED, Rio de Janeiro, 03.14.6.1992, hat dies bekräftigt.

"Dritte Welt"

"Dritte Welt" ist auch heute noch der gebräuchlichste Begriff für die Entwicklungsländer, obwohl deren jeweilige Situation sehr unterschiedlich geworden ist und deshalb auch von einer "Vierten" oder "Fünften Welt" gesprochen wird. Manchen Ländern gelang ein beachtlicher Wirtschaftsaufbau und die Verbesserung der Lebensverhältnisse, während in anderen zunehmende Anteile der breiten Bevölkerung verarmen und eine allgemeine Destabilisierung eintritt.

Die Ursachen für die zunehmende Entwicklungskrise dieser Länder sind durch die Verschränkung externer und interner Faktoren äußerst komplex. Noch immer leiden die Länder der "Dritten Welt" unter der historisch entstandenen Arbeitsteilung, die einseitig zugunsten der Industrieländer wirkt. Der Preisverfall bei den von Entwicklungsländern exportierten Rohstoffen hat ihre Importe aus den Industrieländern relativ verteuert. Diese verschlechterten "Terms of Trade" haben die Schulden der "Dritten Welt" weiter anwachsen lassen.

Mit dem starken Bevölkerungswachstum halten die Bemühungen um den Ausbau von Bildung, Wirtschaft und einem funktionierenden Staatswesen kaum Schritt. Oft behindert die einseitige Verteilung von Grundbesitz und Einkommen, die fehlende Produktivität der Arbeit oder die wirtschaftlichen Eigeninteressen kleiner Eliten eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Eine einseitige Industrialisierungspolitik und die Betonung der Städte als Modernisierungszentren haben insbesondere die ländliche Bevölkerung wirtschaftlich und sozial benachteiligt. Ihre Ernährung ist oft ebenso gefährdet wie die Sicherung der sonstigen Grundbedürfnisse für eine menschenwürdige Existenz. Innere Spannungen, Bürgerkriege und andere bewaffnete Konflikte nehmen zu.

"Eine Welt"

Neben der sehr unterschiedlichen Situation der Länder in der "Dritten Welt" sind heute Perspektiven der "Einen Welt" erkennbar. Ausgehend von der ökologischen Einheit unseres Planeten werden auch die sonstigen Wechselwirkungen in der Völkergemeinschaft betrachtet, und das Bewußtsein einer gemeinsamen Verantwortung wächst. Dabei wird deutlich, daß die Entwicklungskrise in vielen Ländern durch externe Einflüsse vertieft wird.

Um welche Probleme es in der "Einen Welt" geht, zeigt sich u.a. an den folgenden interdependenten Erscheinungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker bedrohen:

  • wachsende Ungleichgewichte zwischen "armen" und "reichen" Ländern,
  • Gefährdung des Weltklimas und Ausdehnung der Wüsten durch Raubbau an der Natur,
  • Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln,
  • Militarisierung zu Lasten der Entwicklung,
  • Massenflucht und Migration durch Hungersnöte, innere und äußere Krisen so wie bewaffnete Konflikte,
  • exponentielle Bevölkerungsexpansion

Die ökonomisch, ökologisch und sozial zusammenwachsende Weltgemeinschaft erfordert eine aktive und breite Mitarbeit aller am Entwicklungsprozeß und der weltweiten Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse. Weder geht es dabei um Almosen noch um gegenseitige Schuldzuweisungen, sondern um eine gemeinsame gegenwarts‑ und zukunftsbezogene Bewältigung des Zusammenlebens auf diesem Planeten. Heute verbraucht der kleinere Teil der Weltbevölkerung den weitaus größeren Teil der natürlichen Ressourcen, während viele Menschen in der "Dritten Welt" nicht einmal ihre Grundbedürfnisse decken können.

Globale Entwicklung und solidarisches Handeln sind also zentrale Voraussetzungen, um den Frieden dauerhaft zu sichern und die weltweiten ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme lösen zu helfen.

Entwicklungszusammenarbeit

Die Differenzierung zwischen den verschiedenen "Entwicklungswelten" hat stark zugenommen. Ausgangssituation, Perspektiven und Interessen eines jeden Entwicklungslandes erfordern unterschiedliche Maßnahmen:

  • humanitäre Hilfen in Krisen‑ und Konfliktfällen sowie Unterstützung bei der Krisenprävention,
  • Förderung armer Bevölkerungsmehrheiten und insbesondere der Frauen bei ihrer Selbsthilfe zur Existenzsicherung und für ein menschenwürdiges Leben,
  • vielfältige Unterstützung beim Aufbau marktorientierter, sozial‑ und umweltverträglicher Strukturen unter Berücksichtigung jeweils landesspezifischer Rahmenbedingungen und Leistungsmöglichkeiten,
  • Verwirklichung der Menschenrechte, Verbesserung der Rechtssicherheit, Stärkung gesellschaftlich‑politischer Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung und anderer Erfordernisse der Konfliktlösung, der Friedenssicherung und der Zusammenarbeit in der Völkergemeinschaft.

Zentrale Vorbedingungen für die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit dieser Strategien ist die Förderung der eigenen Entwicklungskompetenz der Länder der "Dritten Welt" auf allen Ebenen, in der Professionalisierung aller relevanten Fachbereiche, in der gesellschaftspolitischen Mitverantwortung wie auch in der Mobilisierung der Selbsthilfe. Dazu gehören eine breite entwicklungsbezogene Grundbildung, eine an den landesspezifischen Gegebenheiten ausgerichtete Berufsbildung und die Heranbildung von Fachleuten, die in der Lage sind, fachliche Qualifikationen und kulturellen Hintergrund zur Erreichung der Entwicklungsziele in einer erfolgreichen Synthese zusammenzuführen.

Die Förderung der Entwicklungskompetenz in den Ländern der "Dritten Welt" setzt einen offenen und von gegenseitigem Respekt geprägten Dialog und eine an den realen Bedingungen orientierte Zusammenarbeit zwischen Entwicklungs‑ und Industrieländern voraus. Die Förderung im Sinne der "Hilfe zur Selbsthilfe" verlangt neben Engagement und Fachwissen die Bereitschaft und Fähigkeit zur Nutzung der kulturellen Potentiale aller Beteiligten. Deshalb sind eurozentristische Perspektiven zu vermeiden. In den weltwirtschaftlichen Beziehungen müssen die Entwicklungsländer echte Wettbewerbschancen erhalten, wenn die Schuldenprobleme gelöst werden und die Bemühungen um eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung greifen sollen.

Die globalen Probleme verlangen ein gewandeltes Bewußtsein und Handeln in den Industrieländern selbst. Die Erkenntnis zunehmender globaler Vernetzung, komplexer Interdependenzen und der Verantwortung für zukünftige Generationen in der "Einen Welt" hat ein einseitiges Fortschrittsdenken in Frage gestellt. "Sanfte", sozial‑ und umweltverträgliche Technologien, mit knapper werdenden Ressourcen zu vereinbarende Maßstäbe von Lebensqualität und Auswege aus einer weltweit zu befürchtenden ökologischen Katastrophe werden deshalb in den Industrieländern breit diskutiert.

Andererseits wird deutlich, daß eine (im Norden formulierte) globale Ökologiepolitik in Konflikt mit den Entwicklungszielen der "Dritten Welt" geraten und den Lebensbedürfnissen ihrer Bevölkerung zuwiderlaufen kann. Dementsprechend werden auch die ökologischen Probleme nur durch Strategien gelöst werden können, die nach den unterschiedlichen Notwendigkeiten in den Industrie‑ und Entwicklungsländern differenziert werden müssen.

Auch mittel‑ und osteuropäische Staaten des ehemaligen Ostblocks kämpfen bei ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen mit Entwicklungsproblemen, die teilweise denen der "Dritten Welt" ähneln. Sie sind in die globale Sichtweise der Entwicklungsproblematik und in schulische Bemühungen wie z.B. Partnerschaften einzubeziehen, ohne daß im folgenden auf ihre spezielle Lage eingegangen werden kann.

G. Ziele und Grundsätze

1. Aufgaben und Ziele des Unterrichts über die "Eine Welt/Dritte Welt"

Bei der Erziehung zur gemeinsamen Verantwortung für die "Eine Welt" ist auch die Schule gefordert, die Komplexität der zu lösenden Probleme und ihre existentielle Relevanz darzustellen. Diese Erziehungsaufgabe ist insgesamt so bedeutsam, daß sie Bestandteil der Allgemeinbildung sein muß und der besonderen Berücksichtigung bei der beruflichen Ausbildung bedarf.

Sie setzt neben Wissensvermittlung eine verstärkte Handlungsorientierung des Unterrichts voraus, um neben dem Problembewußtsein im Sinne globaler Verantwortung die eigene Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Die Offenheit vieler junger Menschen gegenüber kultureller Vielfalt in der Welt, der Wille zur Völkerverständigung und die Friedensfähigkeit sind zu nutzen und zu fördern. Dies bedingt selbstverständlich auch, daß die eigene Kultur und die sie bedingenden Werte bewußt gemacht werden.

Dabei gibt es folgende Zielbereiche und Inhalte, die exemplarisch und didaktisch verschränkt behandelt werden sollten:

  • Wissen über die aktuellen geographischen, gesellschaftlichen, kulturellen so wie ökonomischen und ökologischen Verhältnisse in der "Dritten Welt", die sich immer weiter differenziert;
  • Kenntnisse der eigenständigen kulturellen Genese, der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaften und Staaten über die europäischen Eroberungen und die Kolonisierung bis hin zur heutigen Situation;
  • Auseinandersetzung mit den grundlegenden Theorien zu den Ursachen der Entwicklungsprobleme und dem damit verbundenen Wandel der Entwicklungsstrategien von der anfänglichen Modernisierungs‑ und Industrialisierungspolitik zu den heutigen Bestrebungen einer kohärenten gesamtgesellschaftlichen Entwicklung;
  • Diskussion globaler Herausforderungen, z.B. in den Bereichen Ökologie, Bevölkerungswachstum, Weltwirtschaft, Armutsbekämpfung, Menschenrechts und Friedenspolitik, und eventueller Lösungswege angesichts unterschiedlicher Situationen innerhalb der Industrie‑ und Entwicklungsländer;
  • Bewußtmachung der kulturellen und wertmäßigen Voraussetzungen unserer eigenen Lebensweise und Gesellschaft im Vergleich mit anderen europäischen und außereuropäischen Regionen, mit ihren Zielvorstellungen und ihren gesellschaftlichen Strukturen;
  • Befähigung zum interkulturellen Dialog in Anerkennung des Eigenwerts jeder Kultur im Kontext ihrer Gesellschaft sowie in der Absicht, mögliche Konflikte zwischen Traditionen und aktuellen Herausforderungen lösen zu helfen;
  • Bereitschaft, in den persönlichen und beruflichen Orientierungen einen Zusammenhang zwischen der eigenen Identität, den heimatlichen Bezügen und der globalen Mitverantwortung anzustreben.

4.2 Pädagogische Grundsätze

Die Dimensionen dieser schulischen Aufgabe fordern die schulische Bildungsarbeit in allen ihren Bereichen. Sie reichen über die kognitive Wissensvermittlung und die didaktische Aufbereitung hochkomplexer Themen weit hinaus und stellen auch Fragen der Wert‑ und Handlungsorientierung schulischen Unterrichts neu.

Der fächerverbindende Themenbereich "Eine Welt/Dritte Welt" steht in einem Gesamtzusammenhang

Nachdem der schulische Unterricht weitgehend nach dem Fächerprinzip organisiert ist und kein eigenes Fach "Eine Welt/Dritte Welt" geschaffen werden soll, zielen Maßnahmen auf allen Ebenen der Unterrichtsorganisation auf die Schaffung eines Gesamtzusammenhangs für diesen Themenbereich:

  • Der Themenbereich wird in der Regel als eine fächerverbindende Bildungs- und Erziehungsaufgabe für die einzelnen Schularten vorgegeben.
  • Soweit möglich, werden die darauf bezogenen Einzelinhalte an jeweils geeigneter Stelle der Fachlehrpläne eingebracht und somit verbindlich gemacht.
  • Zur unterrichtlichen Umsetzung dieser Lehrplanvorgaben arbeiten die Lehrer der betreffenden Fächer zusammen, indem sie ihren jeweiligen Unterricht zeitlich und inhaltlich koordinieren oder diesen Bereich gemeinsam unterrichten.
  • Eine besondere Rolle spielen Unterrichtsprojekte wie Studientage, künstlerische Arbeiten usw., die meist gezielt als fächerverbindende Aktionen durchgeführt werden. In einigen Ländern sind z.B. Studientage über die "Dritte-Welt" im Erdkundelehrplan angeregt.

Im Zusammenhang mit dem Unterricht über die "Dritte Welt" und die Fragen der "Einen Welt" werden häufig Aktionen wie Ausstellungen, Vorträge oder Sammlungen durchgeführt. Diese fördern die Motivation der Schülerinnen und Schüler und beziehen das schulische Umfeld in die Aktivitäten ein.

Der Themenbereich stellt besondere Ansprüche an die Schülerorientierung des Unterrichts

Gerade bei Jugendlichen, die angesichts der menschlichen Leiden in vielen Ländern oft mit großer Betroffenheit reagieren, ist die individuelle Verarbeitung dieser Themen in der Bewußtseins- und Persönlichkeitsbildung ein besonderes erzieherisches Anliegen.

Wo offen Probleme der Entwicklung und der globalen Ökologie anzusprechen sind, die unsere Gesellschaft wie auch die Völkergemeinschaft erst klären muß, darf jungen Menschen nicht der Mut zu ihrer Zukunft genommen werden. Deshalb müssen reale Möglichkeiten und Chancen aufgezeigt werden, die auch mit dem persönlichen Einsatz für die Entwicklungsfrage verbunden sind. Hoffnung und Zuversicht sind wesentliche Unterrichtselemente.

Wertorientierung und persönliches Engagement erfordern die bewußte Auseinandersetzung mit der komplexen Realität

Wertorientierung und persönliches Engagement sind zentrale Ziele des "Eine Welt/Dritte Welt"‑Unterrichts. Dabei ist einerseits eine Identifikation mit grundlegenden Werten, die als universale Menschenrechte oder religiös gesetzte Gebote verstanden werden können, unverzichtbar. Andererseits wäre gerade für Jugendliche ein moralischer Rigorismus gefährlich, der die komplexen sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Strukturen aus der Betrachtung und damit aus der gemeinsamen Verantwortung ausklammert. Ein tragfähiges Engagement für die Umsetzung persönlich akzeptierter Werte bedarf daher auch der konkreten Befassung mit den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und dem Verständnis ihrer Eigendynamik. Da diese Bereiche an jeder Schule in Form der Fächer vertreten sind, ist es u.a. Aufgabe einer fächerverbindenden Pädagogik, jungen Menschen Dialogpartner beim Aufbau eines realitätsbezogenen moralischen Engagements zu sein.

Eine entwicklungsbezogene Werterziehung steht dabei vor der erweiterten Aufgabe, die eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Maßstäbe nicht zu verabsolutieren. Sie muß gerade bei der "BeWertung" fremder Realitäten äußerst vorsichtig sein. Der Spannungsbogen zwischen der notwendigen Identifikation mit der eigenen Kultur und der Offenheit für die Werte anderer Kulturen muß also pädagogisch verarbeitet werden. Auch die Entwicklungsthematik ordnet sich damit in den Gesamtzusammenhang des schulischen Unterrichts ein, der stets auf Versachlichung durch den bewußten Umgang mit der Erfassung und Ordnung der komplexen Realität zielt. Die differenzierte Problemanalyse wird als Vorbedingung für ein handlungsorientiertes Engagement deutlich, das gewaltfreie und konfliktlösende Prozesse in der "Einen Welt" unterstützt.

Die andersartigen Verhältnisse und Lebenswelten in der "Dritten Welt" lassen sich durch Methodenvielfalt und Medieneinsatz vermitteln

Ein tieferes Verständnis für fremde Lebenswelten bedarf der Veranschaulichung. Dies kann unter anderem durch intensiven Mediengebrauch (u.a. audiovisuelle Medien, Internet), durch Rollenspiele, Musik und Tanz oder das Nachbauen typischer Artefakte dieser Welten (z.B. Spielsachen, Töpferei, Küchen, Hütten) erzielt werden. Auch die Öffnung der Schulen für einen Dialog mit Personen aus Entwicklungsländern ermöglicht eine realitätsnahe Wahrnehmung der "Dritten Welt".

Zu Fragen der Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit können Experten in den Unterricht einbezogen werden. Sie sind sowohl in den entsprechenden staatlichen, kirchlichen oder privaten Institutionen zu finden als auch im größer werdenden Kreis der zurückgekehrten Fachkräfte, Lehrerinnen und Lehrer, die in Entwicklungsländern tätig waren.

Die erzieherische Bewußtmachung der eigenen Identität und das Eintreten für interkulturelle Verständigung sind unerläßlich für die Mitverantwortung in der "Einen Welt"

Die Gleichwertigkeit aller menschlichen Kulturen aus ethischer, anthropologischer und menschenrechtlicher Sicht besagt nicht, daß sie gleichartig wären oder sein sollten. Trotz aller Prozesse des Austauschs und der gegenseitigen Bereicherung kann sich Kultur deshalb nur in ihrem jeweiligen Sozialzusammenhang voll entfalten. Für traditionelle Völker oder z.B. die breiten ländlichen Bevölkerungsgruppen der "Dritten Welt" stellt sich das Problem, daß sie wegen ihrer eigenständigen Kulturgeschichte oft nicht mit der "westlichen" Charakteristik staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen zurechtkommen. Die Entwicklungsgesellschaften, aber auch die Industrieländer sind deshalb auf der Suche nach einer Weiterentwicklung ihrer kulturellen Identität. Dieser sensible Kernbereich der Entwicklungsfrage muß prinzipiell der Selbstverantwortung der Länder überlassen bleiben und kann nur durch partnerschaftlichen Dialog gefördert werden.

Auch die Schule muß die Kenntnisvermittlung über andere Kulturräume vertiefen und so dem möglichen Irrtum des "Eine Welt"-Gedankens vorbeugen, daß die Menschen und damit die gesellschaftlichen Realitäten überall gleich seien. Dabei ist das Bewußtsein um unsere eigene Identität hilfreich, wie sie durch die neuere soziokulturelle Entwicklung in Deutschland und in Europa geprägt ist; Beispiele dafür sind die individuelle Selbstverantwortung, die fachlichen und gesellschaftlichen Schlüsselqualifikationen in einer komplexen Arbeitswelt, die Gleichberechtigung der Frau, das ökologische Bewußtsein usw. Ohne eine Weiterentwicklung in diesen Bereichen sind Produktivitätsfortschritte in den Entwicklungsländern ebensowenig denkbar wie die Verwirklichung der Menschenrechte oder der demokratischen Partizipation.

Erziehung zu interkultureller Kompetenz erkennt den Eigenwert jeder Kultur an und fördert die Zusammenarbeit. Dies gilt für die Kompetenzentwicklung der Menschen in der "Dritten Welt" für den Umgang mit modernen Strukturen ebenso wie umgekehrt für unsere Kenntnis der kulturellen Werte in der "Dritten Welt". Eine derart verstandene Erziehung zur Partnerschaft gibt sich nicht mit bloßer Toleranz zufrieden; sie würde nicht ausreichen, die gegenwärtigen Entwicklungskrisen, Menschenrechtsverletzungen sowie andere globale Herausforderungen in der Völkergemeinschaft aktiv zu bewältigen.

Kulturelles Bewußtsein hat die Schule immer schon im Umgang etwa mit Literatur, Kunst oder Religion angestrebt. Diese Aspekte lassen sich auf die aktuellen soziokulturellen Fragen ausweiten, wie unsere Gesellschaft, der Staat sowie Wirtschaft und Technologie von den Wertorientierungen, Zielen und Verhaltensweisen der Menschen getragen, realisiert und kontrolliert werden. Von dieser "Entwicklungsgeschichte" Europas bzw. Deutschlands aus lassen sich die heutigen globalen Herausforderungen ebenso betrachten wie die Entwicklungsfragen der "Dritten Welt" in ihren andersartigen soziokulturellen Bezügen vergleichen.

In dieser Richtung bieten besondere Möglichkeiten:

  • die vergleichende Religionslehre,
  • die kulturkundlichen Komponenten im Sprachunterricht,
  • die eigene Geschichte im Kontext der Weltgeschichte,
  • die Sozialkunde und die Erdkunde für vergleichende soziokulturelle Betrachtungen,
  • die Naturwissenschaften, z.B. hinsichtlich der Vorbedingungen und Auswirkungen des Technikgebrauchs.

Die Schulen nutzen die Möglichkeiten der direkten interkulturellen Begegnung mit Menschen aus der "Dritten Welt"

Soweit es um Nachbarländer oder andere Industrieländer geht, kann vorausgesetzt werden, daß Schülerinnen und Schüler vielerlei Möglichkeiten zu interkulturellen Kontakten haben. Auch für den Unterricht über die "Dritte Welt" ist es wünschenswert, mit Angehörigen dieser Länder direkt ins Gespräch zu kommen. Diese müssen freilich ihrerseits zum interkulturellen Dialog sowie zum kompetenten Gespräch über Entwicklungsfragen bereit und in der Lage sein. In dieser Hinsicht bieten sich besonders die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Sprachkursen oder Fortbildungstagungen sowie Studierende, Kunstschaffende usw. für solche Kontakte an. Da sie in aller Regel vom Goethe‑Institut oder von deutschen Institutionen des Entwicklungsbereichs wie z.B. der Carl‑Duisberg‑Gesellschaft oder der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung, von den Kirchen, von den politischen Stiftungen oder anderen Nichtregierungsorganisationen betreut werden, besteht auf diesem Weg die Möglichkeit der Kontaktaufnahme von schulischer Seite.

Schüleraustausch mit der "Dritten Welt" kann aus vielen Gründen nicht in der Breite betrieben werden, wie dies innerhalb Europas inzwischen üblich ist. Da die interkulturelle Begegnung zwischen Gleichaltrigen aber besonders wichtig ist, werden die auch im Inland gegebenen Möglichkeiten zunehmend genutzt. Dazu zählt z.B. die Beteiligung von Schulen an einem vierwöchigen Studienaufenthalt für Preisträger des Pädagogischen Austauschdienstes der Kultusministerkonferenz.

Zusammenarbeit mit Schulen in der "Dritten Welt" kann zur Handlungsorientierung erziehen

Die Handlungsorientierung schulischer Bemühungen für die "Dritte Welt" sollte nicht auf einmalige und zusammenhanglose materielle Hilfsaktionen beschränkt werden. Vielmehr soll über freundschaftliche Beziehungen und über eine genauere Befassung mit den lokalen Strukturen die dortige Lebenswelt erkennbar werden. Ein partnerschaftlicher Dialog bildet Brücken zwischen der Entwicklungssituation und unserem eigenen Problembewußtsein.

Insbesondere Partnerschaftsprojekte mit Schulen der "Dritten Welt", wie sie z.B. die UNESCO-Projektschulen durchführen, sind geeignet, gemeinsame Bildungsaufgaben zu fördern. Sie sollten in den interkulturellen Dialog eingebettet sein und damit nicht nur die "schulamtlichen" Aspekte und die offiziellen Kontakte umfassen. Vielmehr sollten an Schulpartnerschaften alle am Schulleben Beteiligten aktiv mitwirken. In den Entwicklungsländern stehen die persönlichen Beziehungen meist im Vordergrund; nur eine persönliche Vertrauensbasis eröffnet den Weg zuerst zu den Menschen und dann zu den Sachfragen. Schulische Partnerschaften haben daher meist mehrere Dimensionen personeller, kultureller, materieller und unter Umständen auch bildungspolitischer Art.

Schulen können so die immer noch brachliegende Aufgabe unterstützen, den kulturellen Dialog zwischen den verschiedenen "Welten" zu verbreitern. Er soll helfen, gegenseitige Vorurteile und Fehlschlüsse abzubauen, damit die gemeinsame Verantwortung in der "Einen Welt" wahrgenommen werden kann.

4.3 Altersgerechter Aufbau des Themenbereichs

Langjährige Erfahrungen sowie empirische Forschungen haben gezeigt, daß der Unterricht über die "Eine Welt/Dritte Welt" so früh wie möglich beginnen sollte. Einstellungen gegenüber Menschen anderer Kulturen und damit natürlich auch gegenüber Menschen der "Dritten Welt" lassen sich schon im Grundschulalter beeinflussen. Eine kindgerechte Einführung in die Lebenswelt von Kindern in Entwicklungsländern, ihre Familie, ihre Umwelt und ihre Spiele fördert ein erstes Verständnis für die verschiedenen Lebensweisen der Menschen. Ein solcher Ansatz schließt an das allgemeine Bemühen an, schon in der ersten Jahrgangsstufe der Grundschule mit einer umfassenden Sozialerziehung zu beginnen. Daneben können durchaus auch komplexere Zusammenhänge erschlossen werden.

Auf die Vorbereitung in der Grundschule aufbauend wird im Sekundarbereich I das Wissen über die "Eine Welt/Dritte Welt" sowie die gesellschaftliche und kulturelle Kompetenz erweitert. Im Sekundarbereich II werden die Themenbereiche und die pädagogischen Ansätze des Sekundarbereichs I im Rahmen des Erziehungs- und Bildungsauftrags der einzelnen Schularten vertieft. Dies gilt gleichermaßen für die gymnasiale Oberstufe wie für die beruflichen Vollzeitschulen. Auch in der Berufsschule ergeben sich vielfältige Bezüge zu Themenbereichen der "Einen Welt/Dritten Welt".

5. Themenschwerpunkte und Organisation des fächerverbindenden Unterrichts

5.1 Themenschwerpunkte

Die folgenden Themen sollten schwerpunktmäßig behandelt werden. Je nach den Möglichkeiten der verschiedenen Schulstufen und ‑arten lassen sie sich mit den Lehrplaninhalten der einzelnen Fächer verbinden:

  • naturgeographische, demographische, wirtschaftliche und ökologische Faktoren unterschiedlicher Entwicklungen in der "Einen Welt/Dritten Welt";
  • Agrarstruktur im Wandel, Ernährungsgrundlagen der Erde, Besitzverhältnisse und ihre Folgen;
  • Probleme von Landflucht und Verstädterung;
  • Entwicklung und Gestaltung von Wirtschaftsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Wirtschaftsräumen (Entwicklungsländer und Industrieländer);
  • Weltwirtschaftsordnung und Ressourcenproblematik;
  • historische, gesellschaftliche, politische, kulturelle und religiöse Entwicklungsfaktoren;
  • soziale Entwicklung, z.B. hinsichtlich der Familien, der Frauen, Kinder und Jugendlichen; Arbeit und Beschäftigung; Sicherung der Grundbedürfnisse;
  • Bedeutung und Folgen des weltweiten Tourismus, der Medienverbreitung, der Werbung und anderer globaler Einflüsse auf regionale Lebenswelten;
  • Krisen und bewaffnete Konflikte;
  • Migrationsproblematik;
  • bisherige Entwicklungsstrategien, ihre Ereignisse und Probleme;
  • Tätigkeit internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen;
  • Menschenrechtskonventionen und sonstige internationale Vereinbarungen;
  • Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union;
  • Rolle von Nicht‑Regierungsorganisationen in der Entwicklungsfrage;
  • Diskussionsansätze für Strukturveränderung in den Industrieländern und in den globalen Beziehungen;
  • Lernen von fremden Kulturen;
    5.2 Organisation des fächerverbindenden Unterrichts

Zum Unterricht "Eine Welt/Dritte Welt" können grundsätzlich alle Fächer beitragen. Angesichts der Komplexität der Themen wird häufig ein fächerverbindender Unterricht sinnvoll sein, der, wo dies möglich ist, projekt- und handlungsorientiert angelegt sein sollte.

Schwerpunkte für den fächerübergreifenden Unterricht sind Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde/Gemeinschaftskunde/Politik, Religionslehre, Ethik sowie die sprachlichen, wirtschaftskundlichen, technischen und naturwissenschaftlichen Fächer. Diese Fächer übernehmen je nach dem jeweiligen Themenschwerpunkt koordinierende Aufgaben.

6. Materialien für Lehrkräfte

Verschiedene Länder haben Handreichungen für den Themenbereich "Eine Welt/Dritte Welt" herausgegeben. Daneben hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die Veröffentlichung einiger Materialien gefördert, die ohne Zuordnung zu bestimmten Lehrplänen einen Überblick zur entwicklungspolitischen Thematik vermitteln.

Zur vertieften Beschäftigung der Lehrkräfte mit diesen Fragestellungen stehen auch Fachzeitschriften zur Verfügung. So kann z.B. die von der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) herausgegebene Monatszeitschrift "E + Z Entwicklung und Zusammenarbeit" von Schulen kostenlos bezogen werden.

Ferner sollten die Informationsmaterialien genutzt werden, die z.B. das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der Deutsche Entwicklungsdienst (DED), die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung herausgeben.

7. Lehreraus- und -Fortbildung

Die im Abschnitt 4 dargestellten Ziele und Inhalte bilden auch eine Orientierung bei der Bearbeitung des Themas in der Lehreraus- und -fortbildung. Dabei kommt der Fortbildung angesichts der weitgehend fachbezogenen Ausbildung vor allem die Aufgabe zu, Anregungen für fächerübergreifenden Unterricht zu geben.

Seite zuletzt geändert am 15.12.2008 15:34 Uhr