Zur Kritik Gieseckes an Klafki ein Auszug

aus: G. Becker: Umweltbildung im Kontext nachhaltiger Entwicklung ... Opladen 2001 (S. 311ff)


5.7    Kontroverse um „epochaltypische Schlüsselprobleme“

Dieser Abschnitt stellt den Übergang zum zweiten Teil dieses Kapitels dar, der sich schwerpunktmäßig mit den Konsequenzen des Nachhaltigkeitsdiskur­ses für die Schule und Allgemeinbildung beschäftigt. Eine Brücke bildet die in 2.1 kritisch vorgestellte Theorie der Allgemeinbildung Klafkis, die zunächst unter dem Aspekt der von ihm schon 1985 vorgeschlagenen epochaltypischen Schlüsselproblemen für die nachhaltige Entwicklung von Interesse ist. Da diese Theorie vor allem in der schulischen Didaktik in Deutschland in der Re­gel zustimmend zitiert wurde, schien sie eine allgemein akzeptierte und weit verbreitete Grundlage darzustellen.[1] Um so überraschender war, daß diese erst Theorie zwölf Jahre nach ihrem ersten Erscheinen von Giesecke (1997 u. 1998) sehr grundlegend kritisiert wurde. Das Brisante an der Kritik von Gie­secke besteht nicht nur darin, daß damit die im Grundsatz positive Rezeption der Kategorie der epochaltypischen Schlüsselthemen (in 2.1) in Frage gestellt wird, sondern weite Teile der modernen Umweltbildung, insbesondere die Bil­dung für eine nachhaltige Entwicklung – soweit sie sich in der Schule nieder­schlagen soll. Auf die Kritik von Giesecke hat Klafki inzwischen in einer sehr ausführlichen und detaillierten Antikritik reagiert und alle Punkte als polemisch, in sich widersprüchlich, auf Mißverständnissen beruhend zurückgewiesen und umgekehrt das dahinterstehende Bildungs- und Schulverständnis Gieseckes ebenso grundlegend kritisiert.[2] Trotz weitgehend berechtigter Gegenkritik enthält aus meiner Sicht Klafkis Ansatz der Schlüsselprobleme über meine bereits in 2.1 geäußerte Kritik hinaus einige offene Probleme von allgemei­nem Interesse, auf die ich im folgenden Exkurs in Form von acht Anmerkun­gen zu den zu erwähnenden Kritikpunkten eingehen werde:

Erstens: Der zentrale Punkt der Kritik von Giesecke (1997) besteht darin, daß das Konzept von Klafki deshalb keine Allgemeinbildung darstellen kann, weil es nicht allgemein gesellschaftlich akzeptiert werden wird – die „politi­schen Implikationen“ sind „eher einem bestimmten bildungspolitischen Lager zuzurechnen“ (Giesecke 1997, S. 562). Schon die „Leitvorstellung einer fun­damental-demokratisch gestalteten Gesellschaft, einer konsequent freiheitli­chen und sozialen Demokratie“ (Klafki) geht Giesecke zu weit, da diese Leit­vorstellung über den staatlichen Bereich geht. Dies sei laut Verfassung zwar möglich, aber nicht geboten, so daß es sich nur um eine Option handele, für die man sich entscheiden und einsetzen könne (Giesecke 1997, S. 564).

Zweitens: Klafkis Grundfähigkeiten, vor allem die Solidaritätsfähigkeit kritisiert Giesecke als erzieherische, gesinnungsorientierte Instrumentalisie­rungen und Rechtfertigungen, die dem Bildungswesen vorgegeben werden, mit diesem jedoch nichts zu tun haben (Giesecke 1997, S. 566).

Drittens: Giesecke kritisiert weiterhin, daß Klafki Erkenntnis mit morali­schen Appellen verbinde: „Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller ange­sichts solcher Probleme“ und „Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwir­ken“. Giesecke plädiert dafür, im Allgemeinbildungskonzept sich darauf beschränken, die Probleme bewußt zu machen und sachlich möglichst fundiert zu klären – auch wenn dies keine Garantie für entsprechendes Ver­halten ist (Giesecke 1997, S. 568).

Hinter der Kontroverse um diese drei Punkte steht die durchaus schwie­rige Frage, wie weit oder eng eine Vorstellung der gesellschaftlichen Ent­wicklung oder das Modell einer Gesellschaft sein darf, z. B. im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung, wenn sie als Grundlage von Bildungstheorie und praktischer Bildung dienen soll. Diese Frage ist jedoch nicht rein theoretisch zu lösen, mögliche Antworten sind selbst Ergebnis eines geregelten gesell­schaftlichen Diskurses und der pädagogischen Kommunikation, der bzw. in verschiedenen Staaten und Kulturen und verschiedenen pädagogischen Situa­tionen unterschiedlich ausfallen wird.[3]

Viertens: An den epochaltypischen Schlüsselproblemen wird kritisiert, daß sie auf unterschiedlichen sachlichen Ebenen liegen (Giesecke 1997, S. 569): Frieden, Umwelt, soziale Ungleichheit sind globale politische Fra­gen; die „zwischenmenschliche Beziehungsfrage“ liegt auf einer ganz anderen Ebene, für die es nach Giesecke in der Schule im Sinne einen direkten Inter­vention keine Legitimation gibt.

Wie in 2.1 bereits angemerkt, scheint mir die Systematik der Schlüssel­themen Klafkis in der Tat unklar zu sein, vielleicht gäben hier die Dimensio­nen der nachhaltigen Entwicklung eine bessere und allgemeingültigere Basis, weil sie einem globalen, allerdings sehr abstrakten Konsens entspringen.[4] Man könnte sie durch weitere Problemfelder ergänzen.

Fünftens: Giesecke geht davon aus, daß die Schlüsselprobleme im Kern politische Phänomene darstellen, die nicht einfach gegeben sind, sondern interessenbedingten Definitionen unterliegen und erst durch öffentliche Thematisierungen zum Problem werden.

Diese Konstruktivität ist eigentlich unbestritten, wenngleich sie in den didaktischen Konsequenzen schwer zu behandeln ist. Schon ein paar Jahre früher problematisiert Gagel (1994, S. 47ff) die Konstruktion und den Status der Schlüsselprobleme: Ihr Anspruch, als Problemstellungen einen gesell­schaftlichen Konsens darzustellen, stehe im Widerspruch zu den umstrittenen Zeitdiagnosen und Gesellschaftstheorien, die zugrundegelegt wurden. Meiner Auffassung nach hängt die Brisanz dieses Problems zunächst einmal vom Abstraktionsgrad der Formulierung der Schlüsselprobleme ab, der zu unterschiedlichen Antworten führt: Die Einigung darüber, daß beispielsweise Um­weltprobleme ein epochaltypisches Schlüsselproblem darstellen, ist spätestens mit der Agenda 21 bereits weltweit erfolgt. Wenn man bestimmte Teilberei­che von Umweltproblemen als epochaltypisch festlegen will, wird eine Eini­gung sicherlich schwieriger. Aber auch hier gibt es in der Agenda 21 einen gewissen weltweiten Konsequenz und das Syndromkonzept des WBGU (s. 3.2.3) stellt ein weiteres Angebot dar. Kein Konsens ist zu erwarten, wenn die Probleme konkreter festgelegt werden sollen oder es gar um bestimmte Sichtweisen und um Thematisierung von inhaltlichen Problemen geht, die dadurch erst ‚konstruiert‘ werden (vgl. Kapitel 4). Ansonsten ist ein dadurch bedingter Dissens in einem offenen, pluralistischen Bildungskonzept, das hier vertreten wird, nicht als Problem anzusehen. Hier gibt es wohl auch Unter­schiede zu der Vorstellung von Klafki (vgl. Klafki 1990, 1998b und 2.6.3).

Sechstens: Als exemplarische Kernprobleme, die über Jahre zuverlässig den schulischen Bildungsgang fundieren könnten, sind die epochaltypische Schlüsselprobleme nach Giesecke jedoch ungeeignet. Sie lassen sich auch nicht zweckmäßig didaktisch reduzieren, vor allem weil sie ihrem Definitionscharakter gemäß aus dem politischen Handeln und seinen Begründungen erwachsen. Jeder Versuch wäre willkürlich und stände in Gefahr, weltanschaulich determiniert zu sein. Dennoch sollten nach Giesecke „grundlegende politisch-gesellschaftliche Probleme, die die Heranwachsenden voraussichtlich später zu den ihren machen müssen, in den Kanon der Allgemeinbildung“ aufgenommen werden, aber nicht als fächerübergreifende Aufgabe, sondern als Kern des dafür zuständigen Faches, der politischen Bildung, das Giesecke als einer seiner Arbeitsschwerpunkte vertritt (Giesecke 1998, S. 572). Die Themen müßten – sollen die Zusammenhänge nicht beliebig ausgewählt werden - um didaktische Grundmodelle herum organisiert werden, die sich jedoch von den Schlüsselproblemen nicht ableiten lassen, da sie keine Hinweise auf „kategoriale Verdichtungen“ geben. Solche sind nur vor dem Hintergrund einer fachlich-systematischen Strukturierung des Unterrichts möglich, auch nicht durch fächerübergreifende Kooperation.

Die Auswahl von Themenaspekten und Zusammenhängen ist ein großes und noch kaum gelöstes curriculares und didaktisches Problem (vgl. 5.9). Der Rückzug auf einzelne Fächer ist aber keine sinnvolle und akzeptable Lösung. Sie steht im Widerspruch zur gesamten umweltpädagogischen Diskussion. Es gibt wohl keine eindeutigen Reduktionen auf „Grundmodelle“. Nach obigen Überlegungen kommt es ja auch gerade darauf an, die Konstruktivität der Welt und damit auch unterschiedliche Konstruktionen und Modelle zur Grundlage pädagogischer Arbeit zu machen (vgl. Kapitel 4).

Siebtens: Die bei Klafki zurecht betonten außerkognitiven Aspekte der Schlüsselprobleme („emotionale Erfahrungen Betroffenheiten zu ermöglichen ... und zu reflektieren, und die moralische und politische Verantwortlichkeit, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit anzusprechen“) sind nach Giesecke im Unterricht kaum plan- und realisierbar, abgesehen davon, daß sie möglicherweise unerlaubt in Persönlichkeitsrechte der Lernenden eingreifen. Dies ist nach Giesecke gerade kein neuer Aspekt von Bildung; neu wäre vielmehr, „nun endlich auf vorgängige intentionale erzieherische Instrumentalisierungen zu verzichten und uneingeschränkt auf die Aufklärung der Welt durch Unterricht zu setzen... In einer modernen, demokratisch verfaßten und pluralistisch strukturierten Gesellschaft seien derlei Absicherung von Zielen in bildungstheoretischen und didaktischen Konstruktionen einfach überholt“ (Giesecke 1997, S. 574).

Achtens: Giesecke schlägt vor, Allgemeinbildung im Hinblick auf die gegenwärtigen und zukünftigen Partizipationsmöglichkeiten des Kindes zu strukturieren – Bildung als Teilhabehilfe für den beruflichen, kulturellen und politischen Bereich, von denen keiner den Vorzug erhalten soll; auch sollen in diesem Sinne alle Fähigkeiten des Kindes gefördert werden. Soweit hört sich dies aus einer partizipatorischen Sichtweise positiv an. Statt einer anthropologischen (selten konsensfähigen) Definition von Allgemeinbildung zieht Giesecke eine soziale und politische Definition vor, was für ihn bedeutet: Die notwendige Neuformulierung der Bildung muß sich auf das beschränken, was allgemeine Zustimmung finden kann. Sinnfragen gehören nicht dazu, man sollte sie dem (individuellen) Bildungsprozeß selbst überlassen. Diese Konsequenz ist aus einer pluralistischen Perspektive nicht erforderlich.

Statt politisch definierter epochaltypischer Schlüsselprobleme kommt es Giesecke auf die Herausbildung grundlegender exemplarischer oder modellhafter Vorstellungen an, in der „bedeutsame Aspekte der Wirklichkeit“ so konzentriert werden können, daß diese Verstehensstrukturen flexibel mit neuen Informationen verbunden werden können. Solche grundlegende Strukturen können nach Auffassung von Giesecke nur von den jeweiligen Fachdidaktiken in Zusammenarbeit mit den Fachwissenschaften gefunden werden. Allgemeinbildung ist nur aufgeteilt in Fächer denkbar, die bestimmten Teilen der Wirklichkeit entsprechen. Mit dieser Konsequenz und Vorstellung stellt sich Giesecke außerhalb des Diskussionsspektrums der gegenwärtigen Diskussion um Schulreform und zugehöriger Bildungsvorstellungen.

 


Fussnoten: (Originalnummerierung 73-76)

[1] Ob der Ansatz hinsichtlich der Schlüsselprobleme große Wirkungen in der Schulpraxis oder den Fachdidaktiken erreicht hat, darf aus Gründen unserer Schulstruktur, die fächerübergreifenden Unterricht stark behindert, sehr bezweifelt werden. Jedenfalls sind nur wenige ausdrücklich darauf Bezug nehmende Beispiele in der pädagogischen und didaktischen Literatur dokumentiert (Beispiele in: Die Deutsche Schule 1995).

[2]  Auf die Wiedergabe der Argumente der detailliert ausgeführten Antikritik an Giesecke muß hier verzichtet werden, sie endet wie folgt: „Wer sich ein eigenes, möglicherweise auch kritisches Urteil über mein unabgeschlossenes Konzept einer neuen Allgemeinbildung und ... den Schlüsselproblemgedanken, bilden möchte, wird nicht umhin können, einen oder einige Orginaltexte zu lesen. Wer dies anhand des Aufsatzes von Giesecke versuchen wollte, wird einer ‚Kritik des Mißverstandes‘ (wie der Philosoph L. Feuerbach Kritiken dieses Typs genannt haben soll) auf den Leim gehen“ (Klafki 1998a, S. 124).

[3] Vgl. Pluralismus-Diskurs in 2.6.3 und 5.2.2 sowie Partizipationsanspruch in Kapitel 3.

[4] Vgl. auch hier den Diskurs über Interkulturelle Bildung (5.2.2).